Bei Fragen wenden Sie sich bitte an:

Kulturamt
Haspelgasse 12
69117 Heidelberg
Mobiltelefon (0 62 21) 58-3 30 10
Fax (0 62 21) 58-3 34 90

Zur Ämterseite

Laudatio

auf Philipp Schönthaler und sein Buch "Nach oben ist das Leben offen"

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

der Durchschnittsdeutsche verbrennt im Schnitt 2000 Kilokalorien am Tag. Der Kalorienverbrauch hängt dabei von Faktoren wie Körpergewicht, Größe, Alter, Muskelmasse und dem Grad der Aktivität ab. Bereits während Sie einfach nur hier sitzen, verbrennen Sie etwa 1 Kilokalorie pro Minute. In den 15 Minuten, in denen ich Ihnen etwas erzählen werde, werden Sie somit schätzungsweise 15 Kalorien verbrennen – ohne etwas dafür machen zu müssen. Ist das nicht wunderbar? Diesen Wert können Sie allerdings noch optimieren – denn je anstrengender Sie ihre Tätigkeit, also in diesem Falle: das Sitzen, gestalten, je mehr Muskelgruppen Sie also involvieren, desto höher ist der Energieumsatz. So werden Sie beim Sitzen mit Lehne zwar die versprochenden 15 Kalorien verbrennen, beim Sitzen ohne Lehne jedoch, also wenn sie auf Ihrem Stuhl ein wenig vorrutschen, sind es schon 16. Noch mehr Muskeln aktiviert eine ordentliche Haltung – wir wollen uns nun also alle aufrecht hinsetzen, die Brust herausstrecken, den Gluteus Maximus fest auf den Stuhl pressen. Versuchen Sie dabei, Ihre Bauchmuskeln energisch einzuziehen, bis es zur Gewohnheit wird. Ihren persönlichen Kalorienbedarf können Sie übrigens ganz einfach per Klick im Internet berechnen. Oder Sie laden sich gleich die passende App hierzu auf Ihr Smartphone. Da können Sie dann auch direkt erfahren, dass jene 15 Kalorien etwa in 1/6 Glas Sekt später beim Empfang stecken. Ferner können Sie kontrollieren, wieviele Schritte Sie heute bei welcher Geschwindigkeit zurückgelegt haben, und was dies für Ihren Kalorienhaushalt bedeutet. Vielleicht ist ja sogar ein ganzes Glas Sekt drin.

Meine Damen und Herren, Sie mögen lächeln oder die Stirn runzeln oder Ihre 26 Gesichtsmuskeln sonst wie betätigen, doch sicherlich kennen Sie – von sich selbst oder aus dem Bekanntenkreis oder auch nur vom Hören-Sagen – Beispiele dafür, welch hoher Stellenwert heutzutage dem „Körperkapital“ zugemessen wird. Rund 90 Prozent aller deutschen Frauen finden sich zu dick, die Männer hätten hingegen gerne etwa 13 Kilo mehr Muskelmasse auf den Rippen. Kein Wunder, wird uns doch täglich im Fernsehen, auf Litfaßsäule und in der personalisierten Internetwerbung mit tausenden gephotoshoppten Körpern vorexzerziert, wie der perfekte Mensch von heute auszusehen hat: gezupft, gewachst, gebräunt, gestählt. Der Körper ist längst zum Projekt geworden, zu einer Baustelle unseres Dranges nach ständiger Selbstoptimierung. Dieser neue Körperkult ist jedoch ein nur Beispiel unter vielen, dafür, wie sehr unser Geist unter den Zeitgeist geraten ist. Zumeist sind uns die Muster, nach denen wir leben und die unser alltägliches Verhalten bestimmen, nicht einmal mehr bewusst, da sie als „normal“, vielleicht sogar als „vorbildlich“ empfunden werden. Hin und wieder jedoch passiert es, dass man durch einen „Augenöffner“ doch dazu angehalten wird, aus dem alltäglichen Trott herauszutreten und diesen einmal kritisch zu betrachten.

Ich selbst wurde vor nicht allzu langer Zeit zum Innehalten bewogen, als ich, ihm Rahmen des Clemens-Brentano-Preises, einen himmelblauen Erzählband in die Hand gedrückt bekam. Der Titel des Buches, ein Debut: „Nach oben ist das Leben offen“. Der Name des Autors: Philipp Schönthaler. Der Buchrücken ist minimalistisch bedruckt, gibt nicht viel preis vom Inhalt. „Für Liebende riecht Stroh anders als für Pferde“ heißt es da. Nanu, Liebesgeschichten? Weit gefehlt. Was mich erwartet ist eine Lektüre von ganz anderer Weise, authentisch und erhellend, ein Augenöffner literarischer Art, wenn man so will, der dem Verhalten unserer heutigen technisierten, druchtrainierten und durchtherapierten Gesellschaft einen Spiegel vorhält. In elf vielschichtigen, thematisch dicht verbundenen Erzählungen führt Schönthaler durch das Kaleidoskop unserer Gesellschaft: Er erzählt vom unbeirrbaren Bergsteiger im peitschenden Schneesturm, dem auch der höchste Gipfel nicht hoch genug sein kann. Vom fokussierten Taucher in der Tiefsee, der jene Grenze auslotet, an der der Kreislauf kollabiert, das Herz im eigenen Blut ertrinkt. Vom therapeutisch gestählten Bürostuhlakrobaten, der seinen Körper wie ein Bankkonto pflegt: Denn nur wer einzahlt, wird auch abheben können. Sie alle vereint der absolute Wille, Anerkennung zu erringen, Leistung zu zeigen – oder zumindest einfach nur dazuzugehören. Sie alle kämpfen um einen Platz in unserer heutigen Welt, deren Imperativ die Optimierung des Lebens und der Leistungsfähigkeit ist. Besser, schneller, effizienter ist die Devise. Dabei macht die zwanghafte Selbstdisziplinierung selbst bei der Freizeitgestaltung nicht halt, die ja eigentlich den Zweck hat, sich zu erholen und zu regenieren. Nein, egal ob beim Shopping oder Sport – Schönthalers Figuren wollen ihr Leben um jeden Preis sinnvoll gestalten und ideal ausreizen und machen so paradoxerweise selbst die Phasen der Erholung zum Leistungssoll. Sie verrenken sich krampfhaft bei isometrischen Übungen, verzweifeln am glykämischen Index eines Kaiserbrötchens und marschieren, nach dem Grundsatz „Mall walking as a key strategy to promote physical activity“, unermüdlich zur Hintergrundmusik im Einkauszentrum. Sie suchen Entspannung und Spiritualität – aber nur, um besser und länger im stressigen Alltag funktionieren zu können. Fast möchte man lachen, so skurril mutet diese Betriebsamkeit an, aber dann, auf halben Wege, bleibt das Lachen doch im Halse stecken, denn zu wahr ist der Kern des Ganzen.
In jenem fieberhaften Wunsch nach Optimierung zeigt sich die verzweifelte Suche nach Individualität und Freiheit in einer standardisierten Welt. Die meisten von uns werden diese Gradwanderung kennen - es geht um die Abgrenzung von anderen, gleichzeitig aber auch darum, nicht zu sehr aus dem Rahmen zu fallen, Idealen zu entsprechen. Dass Schönthalers Figuren dabei hinter maximaler Effizienzsteigerung und Anpassung an die moderne Lebenswelt verschwinden, mutet beinahe wie ein notwendiges Übel an. Zurück bleibt eine Masse gesichts- und konturloser Menschen, die alle Anja, Jana, Tommi, oder Timo heißen, ihre Sprache vorrangig dem Jargon aus Gesundheitsratgebern und der Werbung entleihen und die sich allein am Wert ihres Bodymaßindexes zu unterscheiden scheinen. Die Frage nach dem Was, der Handlung tritt hierbei zu Gunsten der Techniken, Definitionen und Sentenzen der Handelnden zurück. Schönthalers Erzählband hebt somit den Plot und die Protagonisten als Strukturprinzip des Erzählens auf, während die Diskurse des alltäglichen Lebens in den Vordergrund treten und wie nebenbei Geschichten zu formen scheinen.

Dabei gelingt es Philipp Schönthaler nicht nur, unsere sich selbst entfremdete Mittelstandswelt mit originellem, präzisen Blick zu charakterisieren, er vollbringt es zudem virtuos, jene Phänomene von der inhaltlichen auf die strukturelle Ebene zu übertragen. Die Besessenheit der Figuren mit Ritualen und Techniken zur Optimierung ihrer Selbst, manifestieren sich in einer faktengesättigten Sprache, die von einer beeindruckenden Recherche- und Lektürearbeit des Autors zeugt. Der Sprachrhythmus wird dabei nicht nur durch die kontinuierliche Schilderung von Trainingseinheiten geprägt, sondern ist gleichsam der Beschleunigung und Dynamik des Alltags geschuldet. Anhand intelligent eingesetzter Montagetechnik variiert Philipp Schönthaler geschickt Tempo und Rhythmus des Geschehens und weiß dabei mit stets neuen Perspektiven zu überraschen. Die Erzählungen lesen sich im Speed seiner Protagonisten. Dicht und fordernd rasen die Sätze vorbei und lassen den Leser kaum zu Atem kommen. Die Erzählungen überschlagen sich, drohen schon fast zu entgleiten - um doch stets an entscheidener Stelle einen Punkt zu setzen und zum Nachdenken anzuregen.

Denn auch, wenn das Leben nach oben hin sicherlich offen ist, impliziert diese vermeintliche Lebensweisheit doch gleichermaßen, das dies auch für das „Unten“ gilt. Ein Kosmos, der strukturell auf Erfolg ausgerichtet ist, produziert auf der Ebene des Einzelnen nicht nur Gewinner, sondern fordert auch Verlierer. Die, die nicht an dem Erwartungsdruck wachsen, sondern zerbrechen, sich verweigern, aussteigen. Immer wieder legt Philipp Schönthaler den Fokus auf diesen Zwiespalt, den minimalen Abstand von Gelingen und Scheitern, Ruhm und Niederlage, Höchstleistung und biologischer Determiniertheit. Immer wieder kippen die Erzählungen, wenn seine Helden meinen, es auf den Gipfel geschafft zu haben, um dann festzustellen, dass man dort, bei längerem Aufenthalt in der Höhenluft, plötzlich jeglichen Willen verlieren kann, der Verstand davon gallopiert. Wenn Höchstleistungen den Menschen immer weiter anspornen, wenn jedes gesetzte Ziel bei Erreichen sofort obsolet wird, es immer nur darum geht Erwartungen nicht mehr nur zu erfüllen, sondern immer noch zu übertreffen, dann endet dies oft in Verunsicherung, Erschöpfung, Depression. Unsere Volkskrankheit Burn-out kommt nicht von ungefähr. Denn „Business“, so lernt der Leser, fordert täglich nicht nur physische sondern auch emotionale Höchstleistungen: „Je offener wir für unsere eigenen Emotionen sind, desto besser kann man die Gefühle der anderen deuten.“ Gefühle werden definiert als emotionales Kapital, als eine Ressource, die uns das Handling unserer Umwelt und Mitmenschen erleichtert. Was hier entlavt wird, ist der versteckte Egoismus unserer heutigen Gesellschaft, und ein markantes Desinteresse am anderen. Schönthalers Figuren bleiben sich fremd, kreisen um sich selbst, interessieren sich allenfalls für Äußerlichkeiten. Tiefseetaucher Termann, der vollkommen besessen ist von seinem Rekordvorhaben, verlernt die Fähigkeit, mit anderen zu interagieren. Seine Mitmenschen dienen ihm lediglich als Resonanzboden. Pärchen Ines und Markus hingegen kommunizieren nur noch über Post-Ist - die schriftliche Notiz ermöglicht es ihnen, sich ohne die aufdringliche Gegenwart des anderen zu artikulieren. In unserer heutigen Welt, in der jeder mit jedem vernetzt ist, ist der Einzelne einsamer als je zuvor.

Es waren allem ebenjene nüchterne Schilderungen der Abgründe unsere Leistungsgesellschaft, die meine Kommilitonen und mich besonders ergriffen haben. Denn, wie Sie vielleicht wissen, der ist Clemes-Brentano-Preis nicht nur eine einmalige Gelegenheit für junge, förderungswürdige Autoren, sondern auch für uns Germanistik-Studenten an der Universität Heidelberg. Wir erhalten in Form eines Seminars die Möglichkeit, einen Teil der Vorarbeit für die Entscheidungsfindung zu leisten und am Ende bei einer Jurysitzung mit professionellen Literaturkritikern auf Augenhöhe zu diskutieren. Ich wurde oft darauf angesprochen, dass dies sicherlich sehr gut für den Lebenslauf ist. Vielleicht würde sich ja etwas hieraus ergeben, Networking und so. Dass es sich in erster Linie um eine einmalige und spannende Erfahrung handelt, fiel dabei meist vollkommen unter den Tisch. An solchen Reaktionen merkt man, dass uns als Studenten die Thematik nicht fremd ist. Auch auf unseren Schultern lastet der Druck der Gesellschaft zu Leistung und Konformität. Universität bedeutet: Notenspiegel optimieren, Studienzeit reduzieren, Studiengebühren finanzieren.
Erfolgsdruck und Optimierung stehen im Vordergrund, wo früher noch Freiraum für individuelle Entwicklung bestand. Von daher hat „Nach oben ist das Leben offen“ bei uns allen einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Es ist weniger, dass das Geschehen im Detail, oder ein Protagonist im Besonderen, die im Gedächtnis hängen bleiben, sondern ein Gefühl, eine Stimmung, die transportiert werden und auch nach Schließen des Buchdeckels im Raum nachzuschwingen scheinen. Die Ahnung, dass hier ist ein Stück Zeitgeist beschworen und auf Papier gebannt worde.

Was nehmen wir mit aus diesem Erzählband? Ist Philipp Schönthaler also ein Verdammer dieser leistungsorientierten Gesellschaft? Ruft er auf zum Kampf gegen die Windmühlen der nüchternen Vernunft und des wissenschaftlichen Fortschritts? Oder ist es auf der anderen Seite nicht auch beachtlich, was der Mensch vollbringen kann? Dass wir, während Ötzi noch zu Fuß über die Alpen zog, schon die ersten Touristen in den Weltraum schicken? Die Antwort, sofern es sie denn gibt, bleibt dem Leser überlassen. In nüchterner, nicht wertender Manier, mit ausgesprochen feiner Ironie stellt Philipp Schönthaler Phänomene unserer heutigen Gesellschaft dar und gibt somit zu verstehen: Maximen wie Optimierung und Dynamisierung sind nicht schwarz oder weiß zu sehen, sie schillern. Wie man mit ihnen umgeht, liegt in der Hand des Einzelnen. Wichtig ist dabei, dass man sich der Muster, nach denen man sein Leben gestaltet, bewusst ist und sie kritisch betrachtet – so dass man sie gegebenenfalls durchbrechen kann. Denn die tatsächliche Intensivierung des Lebens besteht wohl nicht darin, die Tachonadel seines Hamsterrads zum Zittern zu bringen. Nein, sie liegt darin, dass man das, was man macht, nicht nur besonders gut, sondern mit Freude und aus Sebstzweck verrichtet. Deswegen, liebe Anwesende: Vergessen Sie Ihren Kalorienzähler für den Moment, entspannen Sie Ihre Bauchmuskeln und stoßen Sie bitte heute Abend mit vollem Glas uns an. Denn obgleich gezeigt wurde, dass es Erzählungen ohne Protagonisten gibt, die das Prädikat „literarisch besonders wertvoll“ verdienen, ist der heutige Abend doch wieder eine ganz andere Geschichte. Denn der Protagonist heute Abend sind eindeutig Sie, Herr Schönthaler! Herzlichen Glückwunsch zum Clemens-Brentano-Preis!

Katharina Schönebeck

Laudatio anlässlich der Verleihung des Clemens-Brentano-Förderpeises für Literatur der Stadt Heidelberg an Philipp Schönthaler am 18. Juni 2013