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Oleg Jurjew

STILLE, FREMDE UND LIST

Über die Arithmetik des Exils

You have asked me what I would do and what I would not do. I will tell you what I will
do and what I will not do. I will not serve that in which I no longer believe, whether it
call itself my home, my fatherland or my church: and I will try to express myself in
some mode of life or art as freely as I can, and as wholly as I can, using for my
defence the only arms I allow myself to use . . . silence, exile, and cunning.”
James Joyce, in A Portrait of the Artist as a Young Man)


Als Ergebnis der Geschichtskatastrophe, der Zerstörung Jerusalems durch Titus von Rom und des Exils des Volkes Israel, wurde ich in einer der Städte des Exils geboren. Ich hielt mich jedoch immer für einen, der in Jerusalem geboren ist, sagte 1966 in Stockholm Schmuel Josef Czaczkes, besser bekannt als der erste und letzte hebräische Literaturnobelpreisträger Shmuel Yosef Agnon, tatsächlich im galizischen Stetl Buczacz geboren, gestorben in Jerusalem. Hieraus sehen wir: Ins Exil muss man nicht unbedingt aus eigener Entscheidung, aus eigener Not geraten - im Exil kann man geboren sein, infolge einer 2000 Jahre alten Katastrophe. Und nicht nur wenn du Jude bist, es gibt schließlich viele andere Völker, deren Wanderungen durch kleine und große Geschichtskatastrophen verursacht wurden. Aber wenn du Jude bist und nicht dem Land Israel entstammst, geht das automatisch. Du bist sozusagen im Exil beheimatet.

Ich bin ein solcher - Jude und im Exil geboren, in einer der schönsten Städte der Welt, in der schönsten Stadt des Exils. Wenn diese Stadt in menschenleeren helldunklen Mai- oder Juniabenden mit all ihren blutgoldenen Spitzen, ockeren und sattroten Palästen, schwarz-grünen Brücken über dem sanft schimmernden Fluss zu schweben scheint, kommt sie mir immer vor, als ob sie auch ein wenig in den Himmel exiliert wäre. Sie müssen wissen, ich bin in Petersburg geboren. Im Grunde genommen sind auch daran die Römer schuld.

Und hier, in Petersburg, bin ich am 30. Januar 1970 Dichter geworden. Damit stelze ich mich keinesfalls auf, das heißt nur, an diesem Tag habe ich mein erstes Gedicht verfasst – über das traurige Schicksal eines kleinen Ziegenbocks, von einem bösen Wolf gefressen. Das Gedicht ist beruhigenderweise nicht überliefert, allein das Datum blieb im Gedächtnis und wandert etwas gespenstisch durch meine Biographien.

Was bedeutet es aber für mein Thema, dass am 30. Januar 1970 in Leningrad ein Zehnjähriger unter die Dichter gegangen ist? Weiß Gott (und jeder, der mich ein wenig kennt), ich bin kein übertrieben umtriebiger Zitatenreiter, aber beim Erklingen des Wortes Exil erwacht in meinem Hirn manch geschätzter Kollege und hat etwas zu melden. Ich kann sie nicht alle zurückhalten, wir leben schließlich so viele Jahre zusammen in meinem Hirn, sie haben ihre WG-Rechte. Was sagt zum Beispiel, als sie den Spruch von Schai Agnon hört, die russische Lyrikerin Marina Zwetajewa, nach der Oktoberrevolution gut 20 Jahre im Prager und Pariser Exil, dann zurück in der Heimat, die sich ihr als ein noch fremderes Land präsentierte als jedes Ausland? Sie sagt (das ist ein kräftiger russischer Vers, aber ich gebe ihn als milde deutsche Prosa wieder): In dieser christlichsten aller Welten ist jeder Dichter ein Jude. Sogar ein Jud ist jeder Dichter in dieser christlichsten aller Welten, das von Zwetajewa gewählte russische Wort ist ein grobes Schimpfwort wie Mauschel oder Itzig. Also wenn du sowieso Jude bist und auch noch Dichter bist, bist du sozusagen doppelter Jude (aber keinesfalls doppelter Dichter, so funktioniert es nicht!) Und als doppelter Jude lebst du im doppelten Exil, oder? Oder geben diese zwei Exile addiert sogar etwas weniger als eins? Manchmal, in menschenleeren helldunklen Mai- oder Juniabenden in Petersburg, schien mir das zumindest so ...

Das Addieren hörte aber nicht auf: Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, die ich sehr früh aus welchem Grund auch immer als vollkommen fremd zu empfinden begann. Das waren keine „politischen Differenzen“ mit der herrschenden Ideologie oder „dem Regime“ – mit „denen“ politische Differenzen zu haben, hätte bedeutet, „sie“ als existent anzuerkennen, anzuerkennen, dass ich „sie“ auf der selben Existenzebene sehe wie mich – und das konnte ich auf gar keinen Fall, das wäre der Rückzug von der ersten und stärksten Verteidigungslinie gewesen. Für mich war die ganze sowjetische Realität unwirklich – ein trüber Film, der das wirkliche Leben, die reale Existenz umhüllte. Oder, in die Formel unseres lieben Agnon einsetzend: Als Ergebnis der Geschichtskatastrophe, der Oktoberrevolution und der Entstehung der Sowjetunion, wurde ich in Unfreiheit geboren. Ich hielt mich jedoch immer für einen, der in Freiheit geboren ist. Solche wie ich gab es selbstverständlich nur wenige im Vergleich zur überwiegenden Mehrheit der braven Sowjetbürger, die die Welt, in welche sie hineingeboren waren, als Norm empfanden und nie grundlegend in Frage stellten. Nur wenn du in einem kleinen Land oder in einer kleinen Stadt, z.B. einem Stettl, „aus welchem Grund auch immer fremd“ aufwächst, bleibst du ziemlich allein unter den braven Bürgern. Mit ein paar Freunden vielleicht, wenn du Glück hast. Russland ist bekanntlich ein großes Land und Petersburg eine große Stadt, sogar der Bruchteil eines Prozents ergibt ziemlich viele einzelne Menschen. Tausende! Und ich kannte nicht wenige von diesen Menschen, ich sprach mit ihnen, ich trank mit ihnen den süßlich-schweren Pseudoportwein, den billigen Fusel, mit dem sich einfache Leute berauschten in der ewigen Sowjetnacht. Ich las diesen Menschen meine Gedichte vor, nicht mehr über einen Ziegenbock, und hörte mir die ihrigen an. Es gab Jahre, wo ich Woche für Woche sechsmal pro Woche irgendwohin ging, wo Gedichte gelesen, gehört und besprochen wurden, wo Bücher gelesen, kopiert und weitergegeben wurden, die in keinem Sowjetverlag veröffentlicht werden konnten. Man glaubte, sich einen freien Raum erobert zu haben. Das war keine parallele Gesellschaft, das war eine parallele Realität. Oder sie sah sich als eine. Mit anderen Worten – und diese anderen Worte sind den Deutschen aus eigener Geschichte gut bekannt – wir, solche wie wir, lebten damals in einer Art inneren Emigration, im inneren Exil also. Das war mein drittes Exil in der trüben, morschen, sich allmählich auflösenden Sowjetgesellschaft, vielleicht fürs Erste das prägendste.

All das erzähle ich, um zu veranschaulichen – auch mir selbst – warum er sich für mich so heimatlich anfühlt, dieser Hilde-Domin-Preis für die Literatur im Exil. Warum er für mich so selbstverständlich meiner ist. Und um die seltsame Arithmetik des Exils ein wenig zu erörtern. Wie es sich verdoppelt, verdreifacht und immer eins bleibt: dein Leben. Ist auch die Literatur nicht selbst eine Art Exil, in gewissen, meist unglücklichen Zeiten für den Leser, fast immer aber für den Autor? Ich halte das für die dichterische und menschliche Grunderfahrung unserer Zeit – ins Exil zu gehen, im Exil zu leben, im Exil zu schreiben. Ich würde sogar zu sagen wagen, in der modernen, flüssigen Welt, die sich ständig ändert, ist jeder Mensch in dem einen oder anderen Sinne des Wortes ein Exilant. Die Frage ist nur: Sind wir bereit, das anzuerkennen, oder sogar unter Umständen gut zu heißen?

Nur wenige von uns sind dazu bereit. Wie der „junge Dichter“ es war, der „alte Jim Joyce“, unser Schutzheiliger mit den dreckigen Manieren, der „exile“ als Teil seiner berühmten Triade, zusammen mit „silence“ und „cunning“, also der Stille und der List, als bewusst gewählte Voraussetzung des Dichterdaseins bezeichnete: Du fragst mich, was ich tun würde und was ich nicht tun würde. Ich sage dir, was ich tun werde und was ich nicht tun werde. Ich werde nicht dem dienen, woran ich nicht mehr glaube, ob es sich nun mein Zuhause nennt, meine Heimat oder meine Kirche; und ich werde versuchen, mich in irgendeiner Sparte des Lebens oder der Kunst so frei auszudrücken, wie ich nur kann, und so vollständig, wie ich nur kann, zu meiner Verteidigung die einzigen Waffen benutzend, die ich mir erlaube ... Stille, Exil und List.”

Später suchte Joyce, das von ihm erstellte Programm mit der ihm eigenen umbarmherzigen Konsequenz erfüllend, tatsächlich das Exil, die Fremde, die Weite. Sogar London, die natürliche Zuflucht irischer Literaturexilanten, war ihm zu heimatlich, das Englisch der Engländer zwar unbeholfen und unmelodisch genug, aber zu verständlich, um es ständig zu hören. Ein Dichter, meinte er wahrscheinlich, muss fremde Sprachen um sich herum haben, um die eigene Muttersprache als eine Fremdsprache wahrnehmen zu können. Denn der Abstand zur Sprache macht einen richtigen Dichter aus. Das war der entscheidende Bruch mit der im europäischen Bewusstsein seit dem frühen 19. Jahrhundert, seit der deutschen Romantik verwurzelten Metaphysik der Muttersprache, dieser Blut mit Boden verbindenden transzendenten Instanz, den das 20. Jahrhundert, inmitten und infolge der unzähligen Leiden und Katastrophen, vollzogen hatte. So schrieb 1959, im Jahr meiner Geburt, Elias Canetti, der seine fünfte Sprache, die deutsche, „meine gewählte Muttersprache“ nannte: „Zuhause fühle ich mich, wenn ich mit dem Bleistift in der Hand deutsche Wörter niederschreibe und alles um mich herum spricht englisch.“

So weit ging ich durchaus nicht, als ich aus meinem dreifachem Exil nach Deutschland ging, ins einfache Exil. Das Wort Exil empfand ich damals – wie auch die meisten von uns – eher als negativ gefärbt. Als einen Zustand, der überwunden, ja liquidiert werden muss, um den richtigen Zustand des Nicht-Exils, der Heimatlichkeit wiederherzustellen. Ich glaubte, ein wirkliches Exil würde weniger sein als drei imaginäre. Das hat sich wieder als ziemlich falsch herausgestellt: In der Arithmetik des Exils ist eins gleich drei. Wenn nicht mehr als das.

Zwanzig Jahre sind vergangen – heute empfinde ich all meine Exile in ihrer verwirrenden Geometrie und Arithmetik als meine natürliche Umgebung, die ich auf keinen Fall missen möchte.


Rede von Oleg Jurjew anlässlich der Verleihung des Hilde-Domin-Preises für Literatur im Exil an Oleg Jurjew am 26. Oktober 2010 in Heidelberg. Die Rede erschien in der Neuen Zürcher Zeitung, am 1. Dezember 2010, Seite 19.