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Stets wie neu vor dem Nichts stehen

Ein Gespräch mit dem Schweizer Schriftsteller Daniel Zahno

Matthias Schubert: Ihr Erzählband „Doktor Turban“ zeichnet sich aus durch stilistische Vielfalt und verrät Belesenheit. Mich interessiert Ihre literarische Biographie – als Leser wie als Autor.

Daniel Zahno: Ich habe – um ganz früh zu beginnen – schon als Kind sehr viel gelesen, auch Comics. Das Lesen war schon immer ein Teil meines Lebens und eine große Lust. Das hat sich im Aufsätze-Schreiben fortgesetzt, das mir große Freude gemacht hat. Während meines Germanistik- und Anglistikstudiums habe ich das Lesen-Müssen manchmal als beklemmend empfunden. Erst nach Abschluss des Studiums kehrte die Lust an der Lektüre zurück. Autoren, die mich beeindruckten, haben mich natürlich beeinflusst.

Matthias Schubert:Ich las, dass Sie an ihrem 30. Geburtstag unter dem Eindruck von Ingeborg Bachmanns Erzählung „Das dreißigste Jahr“ beschlossen haben, Schriftsteller zu werden. Das klingt nach einer Legende. Gab es tatsächlich so eine Zäsur?

Daniel Zahno: Auf der einen Seite ist es eine Legende, auf der anderen gab es tatsächlich eine solche Zäsur. Bis zu meinem 30. Geburtstag hatte ich nur nebenbei geschrieben, war nie mit voller Energie und ganzem Herzen dabei. Damals durchlebte ich eine kritische Zeit: ich war in meinen Jobs als Archivar, als Journalist und als Lehrer nicht recht glücklich geworden. Aber ich hatte es auch nie gewagt, mich ganz auf das Schreiben zu konzentrieren. Insofern was der Entschluss eine Zäsur. Da man jedoch nicht entscheiden kann, Schriftsteller zu sein, ist es eben auch eine Legende.

Matthias Schubert:Es gab also eine Entscheidung, das Schreiben zu Profession zu machen…

Daniel Zahno: Es ist ja ein Risiko, finanzielle und andere Sicherheiten hinter sich zu lassen. Man weiß, dass man – wenigstens am Anfang – nicht viel verdienen wird. Dazu kommt das Unverständnis anderer. Ich habe kein literarisches Umfeld. Mein Vater war Straßenbahnfahrer, meine Mutter Hausfrau und Spielzeugwarenverkäuferin. Insofern war es auch ein Ablösungsprozess, der sich langsam so entwickelt hat.

Matthias Schubert:Zahlreiche Figuren in Ihren Erzählungen hadern mit ihrer Begabung. Sie haben eine große Empfindlichkeit, die in ihrem Talent begründet liegt, aber diese Sensibilität macht Ihnen auch zu schaffen.

Daniel Zahno: Das hat wohl mit mir zu tun. Da ist dieser innere Drang, Geschichten zu erzählen. Zugleich gibt es eine Stimme, einen Zweifel vielleicht, die dem entgegensteht. So kommt es zu Spannungen. Hier eine hohe Sensibilität, dort das Wissen: du musst unheimlich stark sein, um den ganzen Literaturbetrieb auszuhalten. Ja, das hat mit mir zu tun: dass ich von meiner Begabung überzeugt bin, aber dass ich manchmal auch Mühe habe, das herauszubringen.

Matthias Schubert:Ihre Geschichten handeln von der Sehnsucht nach Harmonie. Ihre Figuren suchen allesamt nach einem inneren Gleichgewicht, nach einem Ausgleich zwischen widerstreitenden Antrieben und Empfindungen. Und sie haben zuletzt das Problem, für diesen Zugang zu sich und zur Welt eine durchlässige Sprache zu finden.

Daniel Zahno: Ich glaube schon, dass die Figuren, so breit die Themenkombination auch ist, alle etwas miteinander zu tun haben. Sie sind immer auf der Suche. Und vielleicht ist es der Autor auch. Beim Schreiben muss ich stets wie neu vor dem Nichts stehen, am Nullpunkt sein, und dann eine neue Form, eine neuen Perspektive finden. Das ist für mich das Spannende an der schriftstellerischen Arbeit. Natürlich wäre es einfacher, jetzt drei weitere Erzählbände nach dem Muster von „Doktor Turban“ zu schreiben. Aber das wäre keine Herausforderung mehr. Ich könnte das wie eine Maschine herunterrattern.

Matthias Schubert:Die Vielfalt der Themen und Stile, die Sie in Ihrem ersten Buch aufbieten, verrät Möglichkeiten, zugleich aber auch eine gewisse Beliebigkeit.

Daniel Zahno: Mit jeder Geschichte kreiert man eine Welt. Und diese Welt muss in sich stimmig sein. Ich nutze alles, was dazu beiträgt, eine Illusion zu stärken. Manchmal verselbstständigt sich die Sprache auch, wie etwa in der Erzählung „Gelb“. Ich schreibe in der Nacht, es geht wie von alleine. Ich schalte die Vernunft aus, versuche das Un- und Vorbewusste in die Geschichte hineinzuholen. Da will ich keine Grenzen setzen. Später überarbeite ich den Text natürlich, betrachte ihn mit anderen Augen.

Matthias Schubert:Für jedes Thema ergibt sich während der Arbeit also eine genuine Sprechweise.

Daniel Zahno: Mit dem ersten Satz klingt ein Ton an. Nur wenn ich diesen Ton höre, kann ich beginnen. Ohne ihn kann ich die Geschichte nicht schreiben. Meine Geschichten haben viel mit Rhythmus zu tun, ich versuche den Klang, die Musikalität der Sprache stark mit einzubeziehen.

Matthias Schubert:Zur Konzeption des Buches, zur Anordnung der Texte. Die Eingangserzählung ist eine Herkunftsgeschichte. Der Erzähler erlebte sich nach dem Tod des Vaters als „verlorener Sohn“. Damit beginnt eine Suchbewegung; die folgenden Geschichten dokumentieren Aufbrüche und Irrwege. In der Schlusserzählung „Yerushalayim“ kommt es dann zu einer überraschenden Ankunft. Klingt diese Beschreibung für Sie konstruiert?

Daniel Zahno: Ich finde den Bogen, den Sie da gespannt haben, sehr schön. Zunächst Herkunft und Vergangenheit und am Ende der Blick in Offene. Im letzten Satz von „Yerushalayim“ ist davon die Rede: „Was gibt es Schöneres als sich hier in etwas Offenes zu verwandeln…“.

Matthias Schubert:Der verlorene Sohn der ersten Geschichte, der mit seinem Vater auch seinen Gott verloren hat, und der Fluchtpunkt Jerusalem. Ist dieser Prozess auch religiös motiviert?

Daniel Zahno: Nicht religiös, aber vielleicht transzendent. Dieses Gebrodel, das Zusammentreffen von Menschen, Kulturen und Sprachen, das hat mich in Jerusalem sehr beeindruckt. Ich habe die Stadt als unheimlich lebendig und hitzig empfunden, auch sexuell. Ganz anders als diese sichere, relativ biedere Schweiz. Eine Sehnsucht nach etwas Höherem, einer großen Harmonie, einer Sprache, die Ewigkeit ausdrücken kann, klingt in meinen Geschichten verschiedentlich an.

Matthias Schubert:Im Zentrum den Buches steht die Geschichte „Mein Herr“. In ihr erzählt eine Friseurin einem jungen Kunden von ihrer Internierung in einem Konzentrationslager, dem Überleben als „Geliebte“ des Lagerkommandanten. Damit begeben Sie sich auf ein schwieriges literarisches Terrain. Der künstlerische Umgang mit dem Holocaust ist immer eine Gratwanderung, die Darstellung des Unvorstellbaren ein sprachliches und moralisches Problem. Wie bewusst war Ihnen das bei der Arbeit?

Daniel Zahno: Ich wollte eine ganz unmittelbare Geschichte schreiben. Das zentrale Bild von einer Frau, die Haare schneidet, die zu Schwänzen werden, die immer wieder nachwachsen, habe ich geträumt. Ich wollte die Geschichte, die oft erzählt worden ist, auf eine neue Weise erzählen, so, dass sie aufwühlt. „Mein Herr“ hat massive Reaktionen ausgelöst – in beiderlei Richtungen. Die Verlagsvertreter empfanden sie als zu tabubrechend: Steht mit als Nachgeborenem diese Freiheit zu? Auf der anderen Seite habe ich Briefe von jungen Leuten erhalten, die sich wegen der Geschichte in ihr Zimmer eingeschlossen haben, weil sie völlig fassungslos und überwältigt waren. In der Erzählung kommt meine eigene Wut über die Vergangenheit zum Ausdruck. Mich hat das Thema stark beschäftigt. Was ich beschrieben habe, geht ja alle an, nicht nur die Involvierten. Ich möchte einem Künstler keine Grenzen setzen, weder was das Thema, noch was die Sprache anbelangt. Wenn einen etwas drückt, dann soll er das machen können.

Matthias Schubert:Haben die Enkel der Täter und Opfer eine neue Unbefangenheit? Sind die Tabus, die die Nachkriegszeit bestimmt haben, für sie nicht mehr gültig?

Daniel Zahno: Viele Überlebende haben lange geschwiegen. Wenn man selber nicht dabei war, hat man eine Distanz zu den Geschehnissen, sieht sie mit anderen Augen. So begründet sich mein Versuch, eine neue Sichtweise einzubringen, die Geschichte neu zu vermitteln. In der Literatur sind es immer wieder dieselben Themen, die aufgegriffen werden. Der Unterschied liegt in der Erzählweise.

Matthias Schubert:In seiner Frankfurter Poetik-Dozentur hat Jurek Becker Leiden, Widerstand und traumatische Erfahrungen als Vorbedingungen des Schreibens gekennzeichnet. Anderenfalls seien Bücher zur „Mäßigkeit verurteilt“. Ist das in Ihren Augen eine generationsspezifische Haltung?

Daniel Zahno: Ich weiß nicht, ob man da eine Regel aufstellen kann. Sicher ist Leiden ein starker Motor, traumatische Erlebnisse drängen nach Ausdruck, wollen verarbeitet werden. Auf der anderen Seite arbeite ich beispielsweise gerade an literarischen Miniaturen, Texten über Gegenstände wie ein Gurkenglas oder eine Kaffeesschale – eine Poesie des Alltags, die nichts mit Leiden zu tun hat, die mir aber viel Freude macht. Letztlich ist es ein Rätsel, warum man schreibt. Ich kann es mir auch nicht erklären. Leiden ist sicher ein Movens. Junge Schriftsteller aus der postmodernen Szene würde das aber vermutlich nicht so sehen.

Matthias Schubert:Wie sehen Sie es auf das eigene Schreiben bezogen? Da Sie das ominöse Wort „postmodern“ angesprochen haben: auch Sie machen sich den Steinbruch der Tradition ja zunutze. Sind das zwei unterscheidbare Positionen: Hier das Lebensthema, dort das Spielerische?

Daniel Zahno: Ich bin da wohl eine Mischung. Ich gehe auch mit einem Erlebnis, das mich stark beschäftigt hat, spielerisch um, gewinne ihm komische, groteske Seiten ab. Daneben bleiben der Ernst, die Abgründe, die Trauer durchaus bestehen. Mühe habe ich mit einer Literatur, die gar nicht mehr erzählen will. Die nur noch Wortgeklimper liefert. Ich erzähle noch gern eine Geschichte, möchte als Autor jedoch in keine Schublade gesteckt werden.

Matthias Schubert:Thomas Mann, Kleist, Peter Weiss sind Autoren, die in einzelnen Texten offenkundig Pate standen. Ist die Beziehung eher spielerisch-respektlos oder spricht daraus auch Bewunderung?

Daniel Zahno: Peter Weiss schätze ich sehr. „Abschied von den Eltern“ hat mich beeindruckt. Thomas Mann ist ein Autor, an den man nicht vorbeikommt, wie immer man auch zu ihm steht. Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu ihm. Neben dem Respekt für seine Sprachgewalt und Disziplin fühle ich mich abgestoßen von dieser Verklemmtheit und Bürgerlichkeit. Kleists „Marionettentheater“ finde ich auch nach der zwanzigsten Lektüre noch geheimnisvoll. Es gibt Stellen, die einem sofort einleuchten, die aber trotzdem fremd und unverständlich bleiben. Bei Kleist ist es schon Bewunderung.

Das Gespräch mit Daniel Zahno führte Matthias Schubert am 22. März 1997 in Basel