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In Gedichten Geschichten erzählen

Ein Gespräch mit dem Lyriker Jörg Schieke

Matthias Schubert: Die Frage nach dem Handwerklichen in der Dichtung ist vielfach diskutiert worden. Gottfried Benn beharrte darauf, dass ein Gedicht „gemacht“ sei und wandte sich damit polemisch gegen inspirierte Poesie. Sie studieren am Leipziger Literaturinstitut. Lernen Sie dort etwas über das Handwerk, oder profitieren Sie eher von der kreativen Atmosphäre unter Kollegen?

Jörg Schieke: Es ist beides. Kreativität ist wohl nicht lernbar. Was man am Institut hingegen sehr schnell begreift, ist die Tatsache, dass man sehr viel mehr Gedichte lesen als selber scheiben sollte. Ich kenne keinen Großen, er nicht auch ein fleißiger Leser war. Es ist wichtig, die Literaturgeschichte durchzuarbeiten. Dabei lernt man auch Handwerkliches – etwa, wie ein Sonett gebaut ist und was ein Jambus ist. Das erhöht die Sicherheit beim Schreiben: man fällt nicht so leicht auf seinen eigenen Kitsch herein.

Matthias Schubert: Sie sprechen von der Bedeutung des Lesens. Ich habe in Ihren Texten erstaunlich wenig Hinweise auf einen möglichen Lesehintergrund gefunden. Gibt es Autoren, die besonders prägend für Sie gewesen sind?

Jörg Schieke: Ich arbeite ein wenig zerstreut und sauge sehr viel auf. Zu den „Heiligen“, die ich habe, gehören vor allem westdeutsche Autoren der siebziger Jahre: Jürgen Becker, Nicolas Born und Rolf Dieter Brinkmann. Auch wenn man das meinen Texten nicht unbedingt anmerkt: Diese drei „B‘s“ sind mir ganz wichtig. Daneben gibt es auch Autoren der europäischen Moderne, etwa den Niederländer Paul van Ostaijen oder – unter den Prosaautoren – Hervé Guibert, einen Freund Michael Foucaults, über den ich kürzlich einen Essay geschrieben habe. Hinzu kommen einige Freunde, die sehr schöne Gedichte schreiben, und mit denen ich ständigen Austausch habe. Sie sind meine ersten Kritiker und der Humus für das eigene Schreiben.

Matthias Schubert: Gehört das Umfeld des Galrev Verlags auch dazu? Oder ist das für Sie lediglich der Verlag, der Ihr Manuskript angenommen hat?

Jörg Schieke: Als ich 1988 nach Berlin kam, kursierten die Texte ja noch als Underground-Literatur. Autoren wie Sascha Anderson, Ulrich Zieger und Bert Papenfuß haben mich sicherlich beeinflusst. Mit dem Verlag bin ich dann zu einem – wie ich finde – günstigen Zeitpunkt in Berührung gekommen. Die Stasi-Geschichte war bekannt, und man konnte es mit sich selber ausmachen, ob einen der Verlag weiterhin interessiert oder nicht. Ich habe mich schließlich für Galrev entschieden: Mir ist kein anderer Verlag bekannt, der so mutig Lyrik – zumal von Debütanten –bringt.

Matthias Schubert: Gibt es in Berlin überhaupt noch literarische Zirkel im engeren Sinne?

Jörg Schieke: Das Galrev-Umfeld ist ein bisschen kaputtgegangen über die Jahre. Wir haben uns inzwischen einen eigenen Kreis geschaffen und in Wilhelmshorst bei Potsdam Treffen organisiert, bei denen Autoren zusammenkommen und sich ihre Texte vorlesen. Daraus ist inzwischen die Zeitschrift „moosbrand“ entstanden, die künftig in Gerhard Wolfs Verlag „Januspresse“ vertrieben wird. Zu den bislang vorliegenden drei Nummern haben unter anderen Elke Erb, Herta Müller und Wolfgang Hilbig Beiträge geliefert.

Matthias Schubert: Zu Ihrem Buch: Ich habe den Eindruck, der Band besteht aus zwei sehr unterschiedlichen Teilen. Im ersten Drittel, bis zu dem Prosatext „Musike“, finden sich Gedichte, die sehr komprimiert Geschichten erzählen, einen narrativen Kern aufweisen, beispielhaft in „Die große Schrift eines schwierigen Schülers“.

Jörg Schieke: Das ist in der Tat eine Sache, die ich sehr gerne mache, gerade auch wieder in meinen neueren Texten: Ich versuche, in Gedichten Geschichten zu erzählen – auch weil ich glaube, dass sich so das „Labern“ vermeiden lässt. Ich kann sehr wenig mit Gedichten anfangen, die ganz allgemein von einer Befindlichkeit erzählen und sich dazu die Metaphern heranholen. Eine Chance des Gedichtes besteht für mich aber gerade darin, mit sprachlicher Qualität eine Erinnerung wachzurufen.

Matthias Schubert: Im zweiten Teil Ihres Buches werden die Gedichte jedoch sehr verschlossen. „Ich“ und „Du“ verändern sich: Das Gespräch findet innerhalb der Texte statt und nicht mehr in Form der Anrede an ein Gegenüber.

Jörg Schieke: Der zweite Teil umfasst montierte Texte, die über einen längeren Zeitraum entstanden sind. Die anderen sind jene, bei denen es so einen großen Moment gab: Auf einmal war der Text da. Häufiger jedoch beginne ich mit einer Zeile, trage zusammen, lasse den Text dann wieder ruhen. Die Arbeit zieht sich hin.

Matthias Schubert: Ist damit, etwas steil gefragt, auch ein Umschlag vom dialogischen Gedicht, das unterwegs ist, hin zum Monologischen, das Benn für seine Lyrik in Anspruch nahm, markiert?

Jörg Schieke: Das nehme ich so an. Ich glaube schon, dass mir die Bennsche Formel, nach der ein Gedicht monologisch ist, sehr nahesteht. Beim Schreiben darf man nicht an den Leser denken. Wenn man damit anfängt, dann hört es auf, dann kann man auch etwas anderes machen. Ungeachtet dessen denke ich, dass ein Gedicht durchaus auch eingängig sein, eine Qualität von Popmusik haben sollte. Doch braucht es eben diesen Kick, damit die Leute am Ende nicht sagen: „Das kann ich auch“. Ich versuche, bestimmte Situationen, zum Beispiel Filmszenen, ganz simpel nachzuerzählen und gleichzeitig sprachlich prägnant und dicht zu gestalten.

Matthias Schubert: Gedichte so einfach wie Songs, wie Brinkmann das vorschwebte?

Jörg Schieke: Durchaus. Der Text „Distanz“ enthält in meinen Augen so ein Pop-Emblem. „lou in der pose des sängers“. Lou Reed, den ich da im Sinne hatte, ist ja auch eine Ikone.

Matthias Schubert: Dennoch ist auffällig, dass Ihre Gedichte weitgehend ohne textexterne Bezüge auskommen: kein 1989, keine Orte, keine Schauplätze, sieht man einmal von der Sphäre der Kindheit ab.

Jörg Schieke: Die Kindheit ist sicherlich ein zentraler Ort. Was ’89 betrifft: Natürlich sind damit wichtige Erfahrungen verbunden. Aber bei bestimmten Vokabeln sträubt sich bei mir alles. Das Gedicht ist ein Raum, in dem eine Sprache aus zweiter Hand keinen Platz hat, ein Labor, in das ich wirklich nur hereinlasse, was von allem gereinigt ist.

Matthias Schubert: Nun muss man sich ja nicht unbedingt über die Wende verbreiten, doch überrascht es, dass es keine Berlin-Gedichte gibt, dass die Semiotik der Großstadt aus den Texten gänzlich ferngehalten wird.

Jörg Schieke: Das hat wohl mit einer Sichtweise zu tun, die man bei Nicolas Born lernen kann: Der Versuch, den eigenen Alltag anzuhalten und sich über die ganz regelmäßigen Abläufe zu verwundern. Im Bezug auf Born gibt es den Ausdruck „Selbstverwunderer“. Das ist eine Sache winziger Details, die man im Alltag entdeckt, wenn man nur genau genug hinsieht.

Matthias Schubert: Ihre Texte unterlaufen alles Schnelle und Griffige: Eine schöne Formulierung, die mehrfach auftaucht, ist jene von den „nebensätzen aus notwehr“. Ist der Nebensatz so ein zweiter Blick?

Jörg Schieke: Im entscheidenden Moment langsam zu sein. Im entscheidenden Moment womöglich zu schlafen. Vielleicht ist es das.

Matthias Schubert: Was mir an Ihren Texten gefällt, ist eben dieses Unzeitgemäße. Sie nehmen das mediale Abenteuer nicht an, Sie versuchen gar nicht erst, ihm hinterherzuhinken. Vielmehr wird das Tempo bewusst herausgenommen. Ist das eine poetologische Trotzreaktion?

Jörg Schieke: Ich kann dem zustimmen, auch wenn ich mir das als Programm so nicht gesetzt habe. Ich halte es aber schon, auch in meiner Art zu leben, mit der Langsamkeit.


Das Gespräch mit Jörg Schieke führte Matthias Schubert am 22. März 1996 in Berlin