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Über die natürliche Magie der Einbildungskraft

Oswald Egger: Ein Briefgespräch in zehn Kapiteln mit Michael Braun

Michael Braun: „Religionen sind Gedichte“: Mit dieser Sentenz eröffnet der australische Dichter Les Murray eins seiner poetologisch angelegten Gedichte. Auch in deinen Gedichten, meine ich, berühren sich Poesie und Religion. In deinem ersten Gedichtband „Die Erde der Rede“ ist z.B. ein größerer Teil der Texte ins Lateinische abgefasst und widmet sich der Definition von gottesbegriffen. In einem anderen Zusammenhang, deiner Eloge auf den Lyrikerkollegen Michael Donhauser findet sich ein Hinweis auf „Die Entwicklung der Funktion des Autors als Erbsünde und Ursprung der Sprache“. Gibt es eine Beziehung des Dichters bzw. poetischen Schöpfers zur Erbsünde? Und um auf Les Murrys Erfahrung zurückzukommen: Sind Religionen Gedichte? Sind (deine) Gedichte Religionen? Wo berühren sich Dichtung und Religion?

Oswald Egger: Da müsste man sich zunächst einmal daraufhin verständigen, was ein Gedicht ist. Ich z.B. weiß nicht einmal, ob Gedichte Gedichte sind (oder berühren). Der von Dir zitierte Satz expliziert ja auch die Entwicklung einer Funktion (einer Veränderlichen), deren Wesen es ist, das Zuordnungverhältnis von einem Bereich in den fremden (umkehrbar eindeutig) abzubilden. Analog versuchte ich damals die Vorstellung der felix culpa, der Erbsünde, mit Satzaussagen etwa Adornos in Verbindung zu bringen („wahr ist nur, was nicht in diese Welt passt“). Daß Gedichte die ewigen Juden in der verschwiegenen Geschichte der Ideen seien, müsste unweit von dem angesprochenen, beinahe jugendlichen Satz zu lesen sein. Auch „Dichtung“ und „Religion“ berühren einander vielleicht nicht (nicht nahebar), aber Sprache selber ist: Berührung? Wenn ich aus der Prägnanz des Dunklen bloßer Besonnenheit heraus taste (an die Grenzen des Völligen), rührt sich an genau diesem Punkt, wo innenwendig Berührung statthat – allerwelt, was ist (und ist nicht).
Ich bin nach und nach häufig solchen Fragen nach „starken“ Vorstellungen nachgegangen. Dabei fiel mir auf, dass zunächst unscheinbare, bloße Vermutungen, eher dazu neigen, sich ausbreitend zu verzweigen, während zuerst vielversprechend anmutende, von aphoristischer Qualität fast, zumeist in der Regel ihrer Aussage ersticken (und sich kaum weiter entfalten). Am interessantesten erschienen mir zunehmend diejenigen Dinge, die sich auf die sie voraussetzenden Bedingungen zurückführen lassen (von Mal zu Mal aufs Mal), deren Sinn gewissermaßen das gleichflächige Geflecht von Wegen zurücknimmt, auf dem er sich eingeschlichen haben wird. Dem reziproken Bezug von Rede und Realität auf die Schliche kommen, die unerinnerte Erfahrung des Unverzweigten, worin uneins wohl jeder Denkweg mündet (in der Erörterung) Wort für Wort ... lange Zeit hat man das Gedicht, Gedichte im Hinblick auf einen mehr oder weniger verborgenen Wegplan nach Jerusalem betrachtet (oder zu sehen gewusst). Aber der Ort könnte auch leer sein, gottlos, unbehaust (das Glück der Lücke).

Michael Braun: Verweilen wir noch einen Augenblick beim Verhältnis von Dichtung und Religion. Du hast kürzlich eine Übertragung der Gedichte des spanischen Mystikers Juan de la Cruz (=Johannes vom Kreuz) veröffentlicht, eines Jesuitenschülers und Karmeliters aus dem 16. Jahrhundert, dessen Hauptwerk „Dunkle Nacht der Seele“ in mystischer Ergriffenheit die Liebesvereinigung mit Gott evoziert. Was fasziniert dich am Werk dieses Mystikers, der in seinen Texten einen seelischen Reinigungsprozess führt? Versteht sich deine Übertragung der „Dunklen Nacht“ als Nachdichtung oder als textgetreue Übersetzung?

Oswald Egger: Die Frage stellt sich für mich gar nicht (ich weiß auch nicht, worauf sich ein Gedicht verstünde). Erstens ist das „Original“, die Vorlage der Kompilation von Juan de la Cruz, das „Hohelied“, selbst die verderbte Überlieferung einer viel älteren Tradition der babylonisch-assyrischen Ishtar-Liturgie. Diese habe ich gelesen, philologisch, im Umfeld meiner Studien zum (nicht-existierenden) Trabanten der Venus (ein ideengeschichtlich inzwischen gut verstandenes astronomisches Problem). Zum anderen gibt es die neubegeisterte „Übersetzung“ bei Quirinus Kuhlmann. Da mich Juan de la Cruz schon früher beschäftigt hatte (u.a. in der genannten Eloge auf Michael Donhauser), ereignete sich mir diese Überlieferung als Hysteron-Proteron (das Frühere als das Spätere). Ich denke aber, meine datierte Version, mich und sich in dieselbe Tradition zu stellen, teilt, aber nur, sofern sie interessant für mehrere sein kann, auch die Aufmerksamkeit der anderen (ohne sie zu erübrigen) als deren Inversion. Wenn man sich in den Wegzusammenhang einer Überlieferung stellt, bleibt es, denke ich, ungleich wichtiger, wozu und wohin man das Übernommene führt und führen wird (als beispielsweise aus welchem Grund man es erschlossen oder überhaupt vernommen habe). Mich etwa interessiert dabei vornehmlich die geteilte Aufmerksamkeit koexistierender Zustände, wie sie beispielsweise aggregieren auch als Gegenwarten, Erwartung und Erinnerung selbdritt (dieses Wachsein in Sprache). Also gar nicht, der Rede Herr „zu sein“ erscheint von (beständigem) Interesse, sondern die „Herde“ jedes Redens inskünftige weiterzutreiben, und neue Ungründe zu erfinden einer Fundlandschaft, mit einer Aufenthaltswahrscheinlichkeit im Allenthalben ja, aber ohne Aufenthalt. So jedenfalls habe ich Hölderlin „Welt in der Welt“ gelesen: „Erde“, „Rede“, „Äther“ „Worte, wie Blumen“, aber ohne Ort und Jahr, Worte, wie Zinkblumen (Unblumen).
„Religion“, die Nicht-Delegierung der Sachen unverhalt der Wörter, das Zurückführen (die Relegation?) der Dinge auf ihre Bedingungen zuvor, die befreienden Umstände von allenthalb umringenden Ligaturen, Wegnetze des Andenkens zurückgehend, von neuem, und immer wieder, der Wiederholung die Verdoppelung der Wirklichkeit, wiewohl das re- der religio untief im Ungrund untertaucht vertauschte, Rede und befreiende Redemtion. Das Präfix re- kommt von Red-, von Ware, Eigentum, und wenn ich richtig kombiniere, passiert die bloße Vorstellung des Worts in die unbedingte und weiterreichende Umgebung eines zu zureichenden Grundes placiert: „hinreichen, hinstrecken, ... Ort, wo man hingelangt oder hin will“ (auch wenn die Poesie, aus der Polis vertrieben, ohne offenbaren Aufenthalt, ein Los hat, aber keinen Ort).
Der Wegzusammenhang von Überlieferung suggeriert, ein Ziel (kein erklärtes, aber ein ununendlich ermessenes doch) zu wissen, ihm sogar näher zu rücken, daraufhin zuhaltend („Jerusalem“). Schade aber, ein Gedicht hielte sich an Tradition nur schadlos, bediente sich jener nur, ohne ihr etwas beizutragen. Auch hierin verhält sich das Gedicht reziprok. Nur weiß ich nicht (ich wiederhole), was ein Gedicht ist.

Michael Braun: „Wieviel Erde braucht die Rede?“ fragst du schon in deinem ersten Gedichtband, die die Leitvokabeln deiner Dichtung benennt: „Erde“ und „Rede“, die in späteren Werkzusammenhängen immer weiter entfaltet werden. „Es heißt, der ganze Kreis der Erde müsse gleichsam in der rede wiederkehren, Gedichte, die einfachen“, heißt es später in deinem Beitrag zu Joachim Sartorius‘ Anthologie „Minima Poetica“.
Ist das als poetisch-enzyklopädisches Programm zu verstehen, als Ausgangspunkt einer neuen poetischen Schöpfungsgeschichte?

Oswald Egger: Man kann alle apodiktischen Sätze als bloße Inzidenzen (in den Konjunktiv der Konjekturen) lesen, diesen z.B. im Optativ der Vermutung. Ich leite durch Inversion der Vorstellung, dass die Erde als Sphäre währt, die analytisch konforme Fortsetzung ab, daß die Rede ihre Pseudosphäre sei, deren Meridian eine staunenswert „exzentrische“ Bahn zieht die Traktrix. Die Traktrix ist eine selbsterzeugende Kurve, die sich-von-sich zieht nach Betracht, wenn etwas aus seiner Lage heraus zu Stand und Wesen kommt. Wort für Wort erscheinen fortan jetzt im Dreh der Rede, und erzeugen (und überzeugen) in beständiger, diskreter Stetigkeit erdkreisend eine ganz eigene Sphäre, der wir einwohnten – in Wirklichkeit.
Es gibt eine mittelalterliche, poetische Enzyklopädie, ich glaube im 12. Jahrhundert., deren vielblättriger Zusammenhang sich einstellt, indem man an eingestanzten Ösen kleine Zettel mit Fragen binden konnte. Mich haben immer (immer mehr, und mehr als daran anknüpfende Fragen) diese Ösen interessiert. Vielleicht weil ich dachte, durch eine Art „Schlupfvariablen“ könnte man eingehen in einen Zustandsraum der poetischen Enzyklopädie (deren Fragmente alle miteinander in offener Folge liiert werden können romantisches Arrangement), worinnen „Wissen“ zeitlich aber völlig und aufgehoben erscheint – geraum im Orbit Wort-für-Wort von Denkfiguren. Vielleicht schöpfe ich mittlerweile mitunter einem Gittersieb Wasser aus dem Faß ohne Boden, das man unumwunden Torus nennt. (D.h. Ich kann mich nur als ein Schöpfer des Ausschöpfens sehen, die Schöpfung oder Genesis erkennen und erzählen kann ich nicht.). Übrigens ist mein verwendetes Wort „werdern“ in keinem Fall als Korruptele für „es werde“ zu erwägen.

Michael Braun: die Grundlegung einer poetischen Schöpfungsgeschichte scheinst du auch in deinem Großgedicht anzustreben, das in den zwei jetzt preisgekrönten Bänden „Herde der Rede“ und „Der Rede Dreh“ erschienen ist.
Dein Gedicht – um es mit einer Fügung von Peter Waterhouse zu sagen – ist zumindest in seinem ersten Teil ein „Genesis-Gelände“, die darin aufscheinende Welt ein „Stimmenplanet“. Aus diesem Genesis-Gelände, so scheint es, werden immer mehr naturmagische Vokabeln aus dem Ungesagten ins Gedicht hineingezogen, so dass der Text eine immer stärkere Sogwirkung entfaltet. Ist das ein romantisches Dichtungsprogramm – die Entfaltung einer neuen poetischen Schöpfungsgeschichte? Oder gehen diene Intentionen in eine ganz andere poetische Richtung?

Oswald Egger: Schöpfungsgeschichte, denke ich, ist meiner Arbeit nicht zuzuschreiben, ... auch bevorzuge ich den Begriff „Fundlandschaft“ vor anderen Territorial-Vokabeln. Irreduzibilität ist eines ihrer wesentlichen Charakteristika, d.h. eine Zusammenfassung (habs versucht) würde umfangreicher ausfallen als der bereits vorliegende Text. Den schönen Begriff von Peter Waterhouse auf meine „Herde der Rede“ anzuwenden, würde verkürzt bedeuten, dass die Genesis ein Geländer hat. Die Irreduzibilität des Selbsttätigen indes ist in beiden Bänden beides, vor – und nachgestellt verzeichnet. Es existiert allerdings (zumindest) ein deutlich erkennbarer Subtext: der motivgeschichliche Rapport zwischen Monatsbildern und der schon genannten Ishtar- oder Venus-Liturgie, welche eigentlich ebenso eine Prozession der Jahreszeiten darstellt (die vor dem ruhenden Auge vorüberzieht). Die Ganglinien dieser Überlieferung gehen einher mit dem secretum einer „diskreten Stetigkeit“, die aber geraum wird im Gedicht, wenn sie den bloßen Gezeiten ihrer Gegenwart (genauer: der Gefangenschaft des Gedichts in seiner Gegenwart) selbstredend widerfährt. Insofern sind die beiden Bände vielleicht einhelliger mit ästhetischen Kategorien etwa der Renaissance zu klassifizieren, als mit den Vorlieben des romantischen Zeit-Alterns in Fragmenten zu verdunkeln. Der mentale Raum meiner Rede ist dem Hausbuch der Renaissance adligat, und ich versuche die platte Erde (und die Palette ihrer Färbungen in Rede) eher zu defragmentieren als unbeschreiblich, unaussprechlich in tausend Bilder parzelliert zu sehen. Im Gegenteil: Der Venus trabant „zu sein“ meint ja die außerplanetarische Opposition zu allen territorialen Zuweisungen.

Michael Braun: Ich gebrauchte den problematischen Begriff „Naturmagie“. Vielleicht wird man deirn „Herde der Rede“ eher gerecht, wenn man sie immanent aus ihren Signalwörtern entwickelt. Also „Herde“, „Rede“, „Poemanderm“, „Geraum“ und – vor allem „Moiré“. „Moiré“ meint ja Gewebe, Textur, das unablässige Knüpfen, Flechten eines Textes, bis schließlich – ich bringe eine Borgessche Utopie ins Spiel – der Text die Ausdehnung des Erdkreises erreicht? Geht es dir um das beharrliche Fortschreiben eines einzigen poetischen Geflechtes, das mit der „Erde der Rede“ begann und mit den beiden jetzt erschienenen Bänden nur ein Stück weiter entfaltet wird? Und ist nicht eine gewisse Hybris in einem solchen Projekt verborgen, ein hypertrophes Akkumulieren tendenziell unabschließbarer Wort- und Sprachuniversen?

Oswald Egger: Ich habe über eine längere Dauer den Aufsatz von Jean Paul gelesen: „Über die natürliche Magie der Einbildungskraft“. Darin ist u.a. der Satz zu finden: „Wenn wir heraushaben, warum uns die Dichter gefallen, so wissen wir das übrige auch.“ Mir scheint daher der Begriff von Hybris diffiziler. Er bedeutet ja zunächst „von zweierlei Herkunft“, „aus Verschiedenem zusammengesetzt“. Dies kommt zumindest dem recht nahe, was das Wort „Moiré“ aussagt: es handelt sich ja nicht um das (unendlich) fortgesetzte Weben und Verflechten (von Gedanken und Worten) zum Textil (zum globalen, Welt-umspannenden zumal, das dem Erdkreis kongruent sein will), sondern meint das strikt lokale Phänomen gittriger, unruhiger Bildmusterung, das durch die Überlagerung zweier (Gewebe-) Strukturen entsteht und (auf Textilen) zumeist als „Wässerung“ erscheint. Wenn man spalier an einem Zaungitter vorbeigeht, und es befindet sich, ein wenig versetzt, ein zweiter Gitterzaun dahinter, wird man dieses Phänomen ereignen „im Vorübergehn“ (wie Rilkes „Panther“). Mithin entgeht man einer Welt, in der das Wahre das Gemachte war. Und stanzt und schlüpft in eine zweite Wirklichkeit der ersten (in den Gewahrsam des Gewahren). Deshalb interessiert mich auch nicht (nicht wirklich) der ganze Erdkreis in seinem unendlichen Rapport zu (beispielsweise) meinem Gesichtskreis, sondern die unendlichen Reihen von Brüchen, die sich zur natürlichen Unzahl im Verhältnis des Rationalen spiegeln, in Summe, und nicht die verschiedenen Versionen von Wirklichkeit (noch einmal), sondern nur deren Inversion. Oder, wie Jane Birkin einmal sagte: „Selbst wenn man alles zeigt, zeigt man nicht viel.“

Michael Braun: Auf vermutete Hybris folgt oft auf der Rezipientenseite ein vorkritisches Grundmisstrauen. Wie kommst du mit der Lesefaulheit und vorzeitigen Erschöpfung von Lesern und Rezensenten zurecht, die auch nach nur kursorischer Lektüre behaupten, dass das insgesamt 600 Seiten umfassende und schwierig zu lesende Groß-Poem um gute 500 Seiten zu lang sei?

Oswald Egger: Diese strikt lokale Aktionsart des Textes macht auch seine Jetztzeitigkeit aus, und die vermeintliche „Hybris“, so wie Du das Wort zu verwenden scheinst, erscheint wohl denen kein Problem, die mithin wissen, was das ist: Wissen. Denn das nächste Wort schon weiß nichts vom vorigen, und das dritte versteht infolge nicht des ersten Sinn. Sicherlich, es fehlt ein wichtiges Zwischenglied in der Liaison meiner Veröffentlichungen (ich kürze ab): das nichterschienene, hinterhakte (nur wenigen Freunden ausgehändigte) Unikat „Ungeheuer Horaz“ (in neunzeiligen Stanzen samt poetologischem Kommentar welches u.a. eine Lösung des Laokoon-Problems vorschlägt und insbesondere den „makkaronischen“ Umgang mit der lateinischen Vorvergangenheit proponiert. Ich erinnere mich beispielsweise gern an Gespräche mit Felix Philipp Ingold, Oskar Pastior oder Thomas Kling, die sich für diesen vorgeschlagenen Aspekt genuin „makkaronesker“ Rezeption interessierten). Und mehr noch: „Poemanderm Schlaf“ war ja ursprünglich geschrieben als Kommentarteil zum Horazischen Ungeheuer, ein Lehrgedicht, das sich, Heraklit erinnernd, von der Wirklichkeit (der Realitäten) abwendet, und im Einschlaf sich zum besten aller möglichen Weltbilder, diese einfachend, anverwandelt. Und im Dreh dieser Rede tauchte alles allenthalben auf, Frist seiner Dauer, was geraum erscheinen konnte, überhaupt: Die gleitende Leiter der Begeisterung schürt die Stufenfolge schon im „Herd“ der Rede, und man kann sich vorstellen, dass von jeder einzelnen Stanze (im Sinne von Ausstanzung) aus diesem Sinnkontinuum ein Zusammenhang ohne offenkundige Verknüpfung zu vielleicht einer, vielleicht allen weiteren passiert (als Trajektorie, für die wissen). In sinnlicher Verstrickung wird und hat das Zeug den Fadenschein einer Art Canevas – und aus dem Fond oder Klöppelgrund erstickt sich das lichtflüchtige Gespinnst des Gedichts, das als „Herd von Herden“ seine eigene Rede blickdicht fokussiert: entweder man sieht die Gardine vor dem Fenster oder die Landschaft im Hintergrund. Das Poem ist also nicht wirklich schwierig zu lesen, es erscheint auch nicht zu lang. Episch breit angelegt ja, unvertraut vielleicht, aber nicht, wenn man bereit ist oder zumindest vorbereitet, in Eile weilend, im ästhetischen Zustand, auf die Sprache hörend, „zu sein“. Gewiss, verständigungsmäßig erstreckt sich die (inhaltliche) Lektüre allein über mehrere Phasen. Sogar dünne und schwache Textstellen gehören zum Charakteristikum dieser Komposition. Die verfahrensweise Vereisung kehrt verlautend wieder vom motivischen Ungrund der Überlieferung in Rogeis gefrorenen Wörtern. Aber als Hausbuch sollte sich indessen eigentlich eine gewisse Gewohnheit (Wohneinheit) einstellen; indem man irgendwo aufschlägt, eine Stelle oder Zeile liest, solange sie gefällt, oder Blätter überschlägt, Kapitel, und selber, vielleicht sehr bald schon, eigenen Gedanken unvordenklich folgt. Warum hätte ich die Leiter nicht stehenlassen sollen? Ich wundere mich gelegentlich (doch nicht sehr) über die ungenierte Urteilskraft: zu denken, dass jemand, dem über Jahre ums Tun zu tun ist an einer Sache, nicht zumindest alle diejenigen Möglichkeiten bedacht und für sich sorgsam überprüft haben könnte (das Tun zu Tun), die einem eilfertigen Rezensenten überrasch vielleicht einfallen mögen, überhaupt erst anzumerken. Jedenfalls ist mir noch kein Einwand (auch dieser nicht) zuvorgekommen, der nicht, nach Test und Überprüfung, längst schon ausgeräumt gewesen wäre. Schade eigentlich. Und da bin ich noch nicht einmal beim Hinweis auf die völlig offenbare reziproke Paginierung („Dreh der Rede“) angelangt ...

Michael Braun: Viele Leser stolpern über den zentralen poetischen Satz: „Es genügt mir, wenn ich denke, dass ich spreche.“ Hier steckt eine Irritation. Ist es nicht gerade das befreiende Sprechen selbst, das unablässige erfinden und sprachschöpferische Neuvermessen der Welt, das poetische Zur-Sprache-Kommen des Daseins, das vom passiv-lähmenden „Denken“, von den Qualen des labyrinthisch in sich kreisenden Bewusstseins wegführen kann?

Oswald Egger: Ich stolpere nicht, dann stottere ich. Auch das Gedichtegedicht spricht nicht aus leibeigener Erfahrung, sondern, beiseite gesprochen, für sich. Die vermeintliche Irritation ist nur eine präzisere Iteration. Dass ich denke, wenn ich spreche, genügt nicht, das ist schon richtig, Kleist habe dies zureichend auseinandergesetzt. Aber wenn ich denke, dass ich spreche, klammere ich bis auf weiteres zwei folgenreich problematische Satzaussagen aus: „ich denke“ und „ich spreche“. Und bin plötzlich handlungsfähig. Der Satz, Springinsfeld, stiftet mich an, Akteur zu sein, wenn es denn im richtigen Leben hinreicht, zu denken und zu sprechen ohne Als-Ob. Die Gleichungen des Ichs sind n-ten Grades, die viele Lösungen besitzt, Nullstellen. Auch komplexe, in denen das Imaginäre eingerechnet ist. Der Satz „Es genügt mir, wenn ich denke, dass ich spreche“ aggregiert und akzeleriert damit eine praktikable Möglichkeit „zu sein“, die mir genüge tut, nach Descartes („cogito“) und Foucault („wer spricht“) weiterhin zu agieren – als Zwerg auf den Schulter von Riesen,
gewiss – und Wittgenstein? Stotterer verstünden einander (Moses und Hamann, Kuhlmann, Notker Balbulus ...) ich denke, das genügt.

Michael Braun: Du selbst hast deine Gedichte in sehr ehrwürdig-abendländische Traditionen gestellt: Sermon, Ode, Ekloge. Die Ekloge ist z.B. ein altrömisches Hirtengedicht – und das lyrische Subjekt deiner Texte scheint ja wie ein Sprach-Hirte wunderbare Wörter und zaubrische flirrende Bilder um sich zu scharen. Ein weiteres zentrales Vokabel in deinem Werk sind die „circumstanzen“, vom lateinischen „circumstare“ und der Gedichtform „stanzen“. Historisch gesehen ist die Stanze eine Strophe aus acht Elfsilbern mit kastenförmigem Druckbild, die man vor allem im Epos antrifft. In diesem Sinne könnte man auch deine „Herde der Rede“ als Vers-Epos verstehen?

Oswald Egger: Das Buch „Herde der Rede“ hatte zum einen Ausgangspunkt das (uneilfertige) Vorhaben, eine Georgica der Gegenwart zu schreiben. Überhaupt bewegen einander meine Interessen (wieder) zunehmend um die poetikgeschichtliche Triade jener trivialen Rivalität, ein Dichter, Dichtung habe dreierlei zu tun (und selbander zu verfassen): Eklogen, eine Georgica, und die Aenäis. Als ich mir eine neunzeilige Strophe anverwandelte, aber nur, um die Mannigfaltigkeit von Gesichtspunkten, in einzelne Herde parzelliert, neu fokussiert, organisiert in Rede stellen („stanzen“) zu können, wusste ich noch nicht, dass die neunzeilige Spenser-Stanze existiert. Aber auch dies hatte sich im Nachhinein als durchaus sinnfällig erwiesen Edmund Spensers: „The Shepheardes Calender“ ist ein Monatsbilderzyklus. Das Denkbuch „Der Rede Dreh“ konformiert in einem (fast homotopischen) Abbildungsverhältnis Herd um Herd (der Rede). Man kann sich vorstellen, dass beide Bände kongruieren, dass sie sich zueinander verhalten wie zwei Halbebenen einer (Riemannschen) Mannigfaltigkeit, mit einem Verzweigungs-Schnitt, der sich durch beide Selbander-Bände zieht und insinuiert, dass man den Parcours des Lesens erst dann als geschlossen anzusehen habe, wenn man ihn zweimal durchlaufen hat. Wo genau der (einufrige) Schnitt dieser Selbstdurchdringung verläuft, ohne zwei unzusammenhängende Gebiete unnachbarschaftlich zu umgeben, kann man („religere“) vielleicht gegenläufig (im Tastsinn) auflesen. Der doppelte cursus dieser Anlage oder Verfahrensweise verweist tatsächlich auf Kompositionsgesetze des Epos. Wohin das will, ahne ich vielleicht, nur versprechen kann ich es nicht.
Nicht zu vergessen die humoristischen Elemente. Das Ineinanderwirken einander dislozierender Stanzen könnte auch als „Kanevas“ für etwaige „lazzi“ dienen, d.h., wie die gleichnamigen Szenarien-Entwürfe in der Commedia dell’Arte, als gittriges Gewebe und fonds für stegreife Bemerkungen poetologischer Färbung.

Michael Braun: Einen für mich überraschenden Wahlverwandten benennst du in deinem poetologischem Beitrag zu „Minima Poetica“: nämlich Oskar Pastior. Sieht du Verbindungen zu seiner Schreibweise: zum Verfahren der Dekonstruktion, Entkoppelung vertrauter Wortverbindungen und anschließender phonetischer Neu-Komposition und Neuverdichtung von Silben und Wörtern?
In welchem Bezugsfeld siehst du selbst deine Dichtung innerhalb der Gegenwartslyrik?
Welchen lyrischen Zeitgenossen verdankst du Inspiration und Anregungen für deine eigene Arbeit?

Oswald Egger: Es gibt immer mehrere Eltern des Gedankens. Derzeit liegen auf meinem Tisch folgende Gegenwarten: Keplers Weltharmonik, das Beton-Lexikon, ein Band über elektrolytische Verzinkung, über elliptische Funktionen und Modulformen, Jahrbücher der International Association Of String Figures, wieder einmal Augustinus, aufgeschlagen Dumézil, Preprints zur Versuchen, die Nullstellen der Zetafunktion zu verstehen, ein Titel, der es lohnt, zitiert zu werden („Wirtschaft und Markt vor dem Hintergrund der prähistorischen finnougrisch-indogermanischen Sprachberührungen. Versuch einer Deutung der Sprache als ein Instrument der Ökonomie“), ein Aufsatz über vorslawisch-etruskische Vogelnamen, die Einladung zum Tag der offenen Tür im August dieses Jahres bei der NASA in Houston, Walter de Marias „Lightning Field“ und „Der Tod des Vergil“. Und Vergil (viel von Giordano Bruno) ... Mit der Zeit gehen (unerheblich), an der Zeit sein (ich weiß nicht). Aber eines fällt völlig und leicht: Zeit werden.

Michael Braun: In zwei Heften der von dir zwischen 1988 und 1998 herausgegebenen Zeitschrift „Der Prokurist“ hast du ein aufschlussreiches Schwerpunktthema gewählt: „Was Sprache ist?“ wird da als poetische und essayistische Herausforderung gefragt. Ist das nicht die wesentlichste und tiefste Aufgabe des Dichters: herauszufinden und stetig herauszuarbeiten, „was Sprache ist?“ Im Sinne der Mutmaßung von Novalis in seinem zweihundert Jahre alten, gleichwohl aktuellen „Monolog“: „Und so wär ich ein berufener Schriftsteller, denn ein Schriftsteller ist wohl nur ein Sprachbegeisterter?“
Und gibt es dann nicht doch eine Verbindung zwischen der „Sprachbegeisterung“ eines Friedrich von Hardenberg und der eines Oswald Egger?

Oswlad Egger: Ja, ich denke.

Ein Briefgespräch in zehn Kapiteln mit Oswald Egger und Michael Braun anlässlich der Verleihung des Clemens Brentano Förderpreises für Literatur der Stadt Heidelberg 2000 an Oswald Egger.