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Katja Lange-Müller

Laudatio auf Felicia Zeller und Andreas Stichmann

Liebe Anwesende,
liebe Felicia Zeller,
lieber Andreas Stichmann.

um es gleich vorwegzunehmen: ich beabsichtige hier keine Sammellaudatio; Sie sind schließlich kein Ehepaar und trotz einiger Gemeinsamkeiten durchaus verschieden, richtiger unterschiedlich. Denn auch in dem Adjektiv verschieden steckt, wie in so manchem deutschen Wort, der Teufel, der eine oder einen „verschieden“ Genannten womöglich geholt haben könnte, in des Wortes anderer Bedeutung, jener, die eben nicht anders, sondern gestoben meint. Dass ich mich zuerst auf das Doppelsinnige, die zärtlichen Gemeinheiten und monströsen Feinheiten unserer Sprache stürzen will, verdanken wir Felicia Zeller, der ich mich zunächst zuwenden werde, weil Frauen – gemäß den üblichen Geboten der Höflichkeit – nun einmal zu bevorzugen sind, selbst von Laudatoren und sogar von Laudatorinnen.

EINSAM LEHNEN AM BEKANNTEN, so der überaus treffende und ebenfalls schön zweideutige, sich auf den Bekannten wie das Bekannte gleichermaßen beziehende Titel des Prosadebüts von Felicia Zeller, in dem die Dramatikerin doch durch jedes Wort hindurchleuchtet. Denn diese 23 Texte, und einige davon sind tatsächlich Erzählungen, saugen ihre enorme Energie, ihre Lebendigkeit, ihre mal mehr, mal weniger rührende Komik, ihren Aber- und Irrwitz nicht aus Plots, aus Handlungen im Sinne von Etwas-Geschieht-Und-Hat-Konsequenzen, sondern aus der Sprache, gesprochener Sprache wohl bemerkt. Dennoch: Vorsicht! Vorsicht, ganz ohne unnötige Nachsicht. Das, was bei Zeller so aufgeschnappt wirkt, so angebissen, einverleibt, und – zu Buchstaben mutiert – wieder ausgespuckt, ist kein Konvolut niedergeschriebener Hörspiele, kein O-Ton-Patchwork, keine reine Realsatire, sondern Kunstsprache und damit Sprachkunst. Trotzdem oder gerade deshalb ziert ein Mr. Spock-spitzes Ohr, ach was, ein knorpliger schweinchenrosa Riesenlöffel das hoffnungsgrüne Halbleinenbändchen des Lilienfeld-Verlages, in dem Zellers erste Prosa abgeheftet ist; denn die Montage von Gehörtem, das freilich auch Fake sein könnte, angeblich Gesagtem und wohl tatsächlich Gedachtem nenne ich: das Zeller-Prinzip. Aus diesen drei Quellen schöpft die Berliner Schwäbin ihre Einzeller, Zweizeller, Dreizeller, Mehrzeller und demnächst womöglich Bestseller, in die sich mitunter von Zäsuren abgegrenzte und so in den Gedichtstatus erhobene Einzeiler, Zweizeiler, Dreizeiler, Mehrzeiler eingeschlichen haben. All diese Zeller und Zeiler setzt unsere Preisträgerin gerne mal wo ab, etwa in der Hasenheider Hasenschänke oder sonst einer Hauptstädtischen oder Stuttgarter Petrischale, und schaut zu, was die dort miteinander anfangen oder aufhören, derart intensiv und krude, dass sie, die Autorin, wiederum aufhört – und anfängt mitzuschreiben.

Felicia Zellers Prosa, so meint man beim ersten, noch gierigen, ja neugierigen Lesen, erzählt von der Flucht einer mit dem Verfassen dramatischer Werke befassten Protagonisten vor eben dem: Verfassen von Dramatik. Kann die Flucht einer Dramatikerin vor den Dramen, die man von ihr erwartet, anders sein als dramatisch? Diese Frage, bezogen auf Felicia Zeller, provoziert erst einmal ein Ja, entreißt mir dann aber doch ein entschiedenes Nein. Was dramatisch ist, bestimmt wer?! Und wer ist wer? Sind wir nicht alle wieder wer, wieder und wieder und wieder… Zellers Protagonistin flieht die Arbeit des Schreibens, die eine schwere ist, aber Auf-Der-Flucht-Sein ist kaum leichter, und die Pausen, die das schlauchende Umherfliehen verlangt, und die sie – öfter als ihr lieb sein dürfte – niedersinken lassen an den Tischen der bereits erwähnten Hasenschänke und denen anderer, ihren Fluchtweg flankierenden Kneipen, die sind auch schwer, weil sie dort auf Mit-Flüchtlinge trifft: Mütter, Models, Maler, Kellner, Glücksspieler- und Ritter, Liebeskranke/ nein, Danke, Lebenskünstler eben; manche allerdings völlig kunstlos und auch schon fast ohne Leben. Obwohl sie sämtlich auf Fluchten und Ausflüchte sinnen, kommen sie selten weiter als ihre Turnschuhe, Badelatschen, Pumps oder Springerstiefel sie tragen, beispielsweise mal wieder zum Hermannplatz.„Nirgendwo sonst muss man so flink und wendig sein wie am Hermannplatz, wo man den allzeit schnell fliegenden Spuckebatzen ausweichen muss, die jederzeit von jedermann, ob vor, neben oder hinter dir, in überraschend großen Bögen ausgerotzt werden können.“ So laufen sie nun in Anoraks und Jogginganzügen durch Neuköln, rennen und reden, verschnaufen und reden, erheben sich und reden, reden noch im Weggehen mit elend leeren Taschen, erschöpft, völlig fertig, nur: wovon und womit?/ und doch so/ katastrophenfroh, so seit Tagen durchgeknallt/ dass es einem schaurig in den Ohren widerhallt.

Der Stoff ist da, fließt rein in die Lauscher, auch die Kehle runter – und irgendwie kommt dann diese anarchoid-assoziative, hirnerfrischend komische, markerschütternd wehmütige, musikalisch-intelligente Prosa dabei heraus?! Nein, so ist es ganz gewiss nicht. – „Immer lacht ihr/ und scherzt ihr/ o Freunde./ Ihr müßt, o Freunde/ ihr müßt./ Denn dies sollen Verzweifelte nur“ heißt es beim Dichter. – Das Wohnen in Neukölln, das Leben im Jogginganzug, das bedröhnte, aggressiv-verzagte Gequassel, die „großen, stabilen Kerzen“ vom PLUS, „die man sich in den Hinterhof rammen kann“ und selbst Reime wie Harz 4 auf Dosenbier, all das, glauben Sie einer Aborigine aus dem Berliner Wedding, ist nicht lustig und komisch nur für die zur Flucht nach vorn Entschlossenen, jene, denen es manchmal wie im Schlaf gelingt, sich die Bitternis der allseits reduzierten Perspektivlosigkeit, die – immerhin mannigfache – Armut schön zu saufen, weg zu „brettern“, um im Terminus unserer Autorin zu bleiben. Mit anderen Worten: Felicia Zellers Komik ist blanke Notwehr und ihr Neukölln ein ganz spezifischer, so nur von ihr allein erfundener Leuchtkörper, ein grotesk apokalyptischer Ort, ein westlich interessanterer als das echte Neukölln, das Sie und selbst ich nach drei, vier Tagen vielleicht noch bizarr, nach einem Monat aber schon gespenstisch oder bestenfalls langweilig finden würden. – Während ich dies schrieb, fielen mir plötzlich zwei Zeilen eines Kinderlieds wieder ein: „Da oben auf dem Berge/ da steht ein Karton/ Da machen die Zwerge/ aus Scheiße Bonbon“. Ich denke, genau das ist es; das gelingt Felicia Zeller: sie macht aus Scheiße Bonbons. Immerhin, das Umgekehrte kann jeder, vorausgesetzt, er mag Bonbons. In dem, was die Menschen so reden, in der Sprache, den Wörtern, die uns Zeller zu lesen gibt, hausen jene filmreif abgedrehten Sprüche Widersprüche, die ihren Leuchtkörper mal strahlen oder schamhaft erglühen und mal gerade so gefährlich aussehen lassen, wie sie tatsächlich sind; verbale Tretminen, die Zellers absurden Neuköllner Leuchtkörper jeden Moment in einen Knallkörper verwandeln können. Eben noch entfalten putzige multiple Substantive ihren ganzen antagonistischen Charme, passen Jogging und Anzug noch zusammen wie Kaviar und Marmelade, da kommt auch schon die „FUSSFESSEL FÜR SCHULESCHWÄNZER“. Diese zusammengesetzten Hauptwörter schweben nicht als schillernde Sprechblasen über die Straße um dann zwischen den schon wieder halb leeren Weizenbiergläsern zu zerplatzen, nein, sie stehen in der Zeitung und sind Sprengstoff genug, um unsere Protagonistin zu einem Sience Fiction-Roman anzuregen, einem jener Projekte, die sie „nie verwirklichen“ wird. „Der Sience-Fiction-Roman trägt den Titel REICH DER ALTEN und wird erzählt aus der Sicht eines Jungen, der von den Alten, die die Herrschaft übernommen haben, die sie mit der Pisa-Studie geschickt eingeleitet haben DIE ZAHLEN SPRECHEN FÜR SICH, versklavt wird, wie alle anderen jungen Menschen auch. Junge Menschen, ungezogen, ungebildet, verblödet, von denen es viel zu wenige gibt, die also zur Sicherung des Standards der Alten verunsichert, chancenlos, ohne Lobby, ohne Zukunft und ohne Gehalt arbeiten müssen, meistens in der Pflege. Manch einer trägt dabei elektronische Fußfessel.“ Aber ganz unerwartet wird unsere so superrealistisch an ihrem Sience-Fiction-Roman herumträumende Protagonistin ein- und überholt, von hinten und von einem roten Schnauzbart auf Turnschuhen, der aus seinem Anorak herausblafft: „Haste Zeit? Willste poppen?“ Unsere Protagonistin lässt sich natürlich nicht lumpen und kontert knackig philosophisch sowie ganz im Geiste Hegels mit einem deutlichen, nicht-antagonistischen Wider-Spruch: „Komm, hau ab!“ Irgendwann zieht Old Anorak tatsächlich Leine und unsere Erzählerin setzt ihren „Weg zur Hasenschänke“, wo sie „noch etwas Sonne vermutet“, fort. Aber auf einmal raste „eine kleine, schwarze Kindergestalt aus dem Gebüsch quer über den Weg, sprang panisch über die Holzabsperrung auf der anderen Seite und verschwand wie ein gejagtes Tier im Wald. Ich blieb hüstelnd stehen und ich tat gut daran. Denn Sekunden später brachen zwei Polizisten in olivgrünen Ganzkörperanzügen aus dem Gebüsch, man konnte sie kaum sehen in ihren Tarnfarben, und rasten – wie die Großwildjäger in ihre Walkie Talkies brüllend – über den Weg, ohne nach links und rechts zu sehen. Gelten denn in diesem Park keine einfachen Verkehrsregeln mehr? Ich stand wie eine Säule. Übrigens nahe dem Turnvater-Jahn-Denkmal. SAG’S DURCH! SAGS’S DURCH! rief der Hintere völlig außer sich in den schwarzen Apparat, den er mit sich ins nächste Gebüsch riss. (….) RASENHEIDE, 04. 10./ GEGEN 16 UHR – Direkt vor einem Einsatzfahrzeug lag ein von total aufgeregten Polizisten wie ein Rind zu Boden geworfener Kleindealer, den Kopf in den Staub gedrückt. Ein Polizist warf sich mit dem ganzen Körper auf den am Boden liegenden Kleindealer, um ihm die Arme mit Handschellen auf den Rücken zu fesseln.“ – O ja, auch solche nicht nur Hand Fuß fesselnde, ganz ohne mehr oder minder erfundene Zitate auskommende Realowirklichkeitsbeschreibungen eines Neuköllner Herbsttages geraten Frau Zeller aufs Glaubwürdigste, erschreckend Lakonischste; denn: „Wie es so ist mit den Idyllen heutzutage, sie sind nicht mehr“.

Liebe Felicia Zeller, ich gratuliere Ihnen aus dem tief-coolsten Grunde meines alten Weddinger Hasenherzens zu Ihrem Teil des Clemens-Bentano-Förderpreises, der dieses Jahr für Erzählungen vergeben wird, die fraglos schwierigste und edelste Disziplin der Prosakunst, und komme nun zu Andreas Stichmann, dem der andere Teil des Preises gebührt – vollauf, damit das schon einmal gesagt sei.

Obwohl auch bei Andreas Stichmann der eine oder andere Anorak und Jogginganzug vorkommt, ist dessen Erzählfolie nicht Berlin; seine Protagonisten, die ebenfalls alles andere als klassische Gewinner sind, treiben sich in der nicht näher bezeichneten deutschen Provinz, in der Ex-Hauptstadt Bonn oder in Südafrika herum. Und wir haben es bei Stichmanns Prosadebüt, dem im mairisch-Verlag erschienen Band „Jackie in Silber“, mit astreinen Erzählungen zu tun, mit Shortstorys und Novellen in leuchtenden Bildern, über die sich, so will es mir – besonders bei den längeren seiner Geschichten – scheinen, erzähldramaturgisch hohe Bögen wölben – von ihrem jeweiligen Finale bis zum jeweiligen Anfang – und damit gerade so gebaut sind wie nur die besten Texte dieses nun wirklich anspruchsvollen literarischen Genres, das, weit mehr als der Roman, eigene Sprache und kompositorische Genauigkeit erfordert. Vor allem jene Erzählungen, die das – dem Autor freilich bereits bekannte – Ende von ersten Wort an im Blick haben, verlangen, ja erzwingen jene sprachliche Dichte und spezifische Oberflächenspannung, der sie ihre nachhaltige Wirkung auf den Leser verdanken und die den größten Vorteil der Erzählung gegenüber dem Roman ausmacht. Stichmanns Erzählungen sind genau so komponiert; das zeigt – zuerst und ganz vorzüglich – die sorgsame Wahl der Erzählperspektiven. Für die meisten der 11 in sich geschlossenen Texte wählte er die Ich-Perspektive, für zwei die auktorial-personale und für zwei weitere, richtiger die erste und die letzte, eine, die kaum einmal jemand riskiert, weil sie schwer zu handhaben ist und weil sie sich – scheinbar – direkt an den Leser wendet, nämlich die Du-Perspektive, die, mit Stichmannscher List und Stichmannschem Können gebraucht, allerdings nicht wirkt wie der Versuch, sich beim Leser anzuwanzen, sondern eher selbstsuggestiv als suggestiv, so, als duze einer die eigene Person und bezöge doch in Gedanken einen Nahen, einen Freund, einen Gleichgesinnten, von dessen Existenz er nicht einmal überzeugt sein muss, mit ein. – Aber was heißt hier „Wahl“ der Erzählperspektive?! Andreas Stichmanns ausgeprägtes Gefühl für die literarische Disziplin Erzählung, und der Begriff Disziplin ist so streng gemeint wie er klingt, beweist sich ja gerade darin, dass man beim Lesen einer jeden seiner Geschichten spürt: die wollte gerade so, wie sie nun geworden ist, aufs Papier und zwischen die beiden Pappdeckel; eine andere, als jene Erzählperspektive, für die der Text, nicht der Autor, sich entschieden hat, wäre nicht überzeugend. Wie ist das zu erklären? Nur damit, dass Andreas Stichmann seinen Protagonisten, bevor er sich ans Schreiben macht, offenbar erst einmal zuhört, dass er die Gegend, in der sie unterwegs sind, vor Augen und das vielschichtige, mitunter explosive atmosphärische Gemisch, dem er seine Figuren ausgesetzt, deren Außen- und Innenwelt und die daraus resultierenden Konflikte im eigenen Körper hat, also auch physisch oder meinetwegen empirisch nur zu gut kennt.

Und ein weiterer „Kunstgriff“, den auch nicht jeder anzuwenden wagt und den man erst einmal beherrschen muss, charakterisiert das Stichmannsche Erzählen: Der Wortführer, selbst wenn er ich sagt, ist in keinem Fall derjenige, der auch im Focus der Aufmerksamkeit steht. Bei Andreas Stichmann wirkt es immer so, und diese Wirkung ist kalkuliert, als wärme sich der Erzähler im Licht des Scheinwerfers, den ja kein anderer als er auf den jeweiligen „Helden“ oder Antihelden seiner Geschichte richtet. Der Erzähler spiegelt sich im Protagonisten und kompensiert damit etwas, wovon er annimmt, dass es ihm fehle. Dabei sind Stichmanns Erzähler – und ebenso seine Protagonisten – höchst unterschiedlich, manche, speziell die ganz jungen, von nichts geleitet als fast blinden Suchbewegungen, ohne Selbstvertrauen, schüchtern und aggressiv zugleich, spöttisch und empfindlich, abenteuerlustig und doch gehemmt, diffusen Ängsten verhaftet, die aber uneingestanden, wenn nicht peinlich unterdrückt bleiben. Andererseits gibt es die älteren, deswegen jedoch nicht unbedingt reiferen oder gar abgeklärten Figuren. Der Vater im „Goldbarrenmann“, von dem dessen Sohn erzählt, wähnt sich, aus der Sicht seines Sohnes jedenfalls, dem Schicksal, dem Unglück, der Verfolgung ausgesetzt. Er handelt ein bisschen mit altem Krempel, schaut am liebsten Tiersendungen und ist dem eigenen Leben gegenüber ansonsten eher gleichgültig; alles gelaufen irgendwie. Auch der Erzähler, der ihn wohl am besten kennen müsste, weiß nicht: Ist es Hilflosigkeit, Unfähigkeit, Resignation? Und er versucht, diesen alten Hippie, dessen Möbellager abgefackelt wurde, einen Neustart zu verschaffen, ja, ihn zum Glück, das freilich Reichtum voraussetzt, zu zwingen, indem er seinen Vater auf den „Goldbarrenmann“ einschwört, eine von einem TV-Sender ins allgemeine Rennen um Kohle geschickte Werbegestalt, die mit dem Fahrrad unterwegs ist, und der man, sobald man sie erblickt, nur den Namen des Senders zurufen muss und schon hat man einen fetten Goldbarren gewonnen. Aber der Vater stellt ihn nicht, diesen Goldbarrenmann, obwohl er die Chance dazu gehabt hätte, und kommt trotzdem, im Rahmen seiner bescheidenen Ansprüche, noch einmal auf die Beine. Erst am Schluss der Erzählung wird das Wesentliche dieses Textes offenbar, sogar dem Ich-Erzähler; nämlich, dass der womöglich gar nicht seinen Vater, sondern seinen Blick auf ihn und damit die eigene Paranoia beschrieben hat; eine Projektion also, die viel über diesen Erzähler „verrät“, aber wenig preisgibt über das Subjekt, dem dessen Aufmerksamkeit gilt, den Vater, von dem er einmal sagt: Es wunderte mich nicht, dass sie schließlich gekommen waren, um ihn auszurauben. Er hatte sie sozusagen herbeigefürchtet. Und eines Tages würden sie kommen, um ihn endgültig hinzumachen, da war ich mir sicher. Das heißt, sie würden ihn so weit treiben, bis er den letzten Schritt selbst tut, und was ich dann machen sollte, wusste ich nicht, denn wen hatte ich schon, außer meinen Vater?“ – Simpler ausgedrückt: der Mensch sieht sich immer nur gespiegelt. Muss er sich nicht weitgehend für den halten den er wahrnimmt im Blick des anderen? Und so – und viel feiner und genauer – klingt das bei Andreas Stichmann: „Ich hatte gelesen, dass es Leute gibt, die von der Idee besessen sind, jemand anders wäre dem Unglück geweiht. Kann sein, dass es bei mir so war, aber ich glaube, mein Vater ist wirklich gelassen geworden. Eine beruhigende Vorstellung: Mit knapp sechzig plötzlich grundlos zufrieden. Wenn ich ihn in seinem Lager besuche, ist ist er meistens mit irgendwas beschäftigt, ganz bewusstlos und verträumt, wie ein Tier in der Höhle. Er existiert einfach, ohne große Pläne. Und ich mag es, ihm beim Spülen zuzusehen: Wie gründlich er dabei ist, wie er Löffelchen für Löffelchen schrubbt (…) Ich mag die ruhigen, sanften Geräusche: Das Klickern der Teller, das Knistern des Spülschaums, das Gurgeln, wenn er den Stöpsel zieht. Ich selbst warte immer noch auf große Explosionen, aber da ist nichts im Anmarsch, nur der erste Schnee.“ Ein wirklicher letzter Satz, ein Finale, das die Spannung der ganzen Erzählung geradezu gedichtartig noch einmal hält, so wie man den Atem anhält und dann weiteratmet; sie besteht in dieser antagonistischen, nicht enden wollenden Differenz zwischen Erleichterung und Enttäuschung, der Angst, die sich lebendig anfühlt, und der Normalität alltäglicher, so gar nicht emphatischer Verrichtungen, die wohl langweilig sind, aber bewirken, dass man sich kurz ausruht von der Angst, die ja dennoch immer da ist und Leben bedeutet, ebenso wie das Glück, das sich kaum einmal blicken lässt und doch auch nicht nur in der Abwesenheit von Unglück liegen kann.

Gerne, sehr gerne würde ich Ihnen noch lange weitererzählen, was ich bei Andreas Stichmann wie gelesen habe, seine souverän skizzierten und doch wunderbar differenzierten Bilder deuten, seine präzisen Schlüsse, die ihn jetzt schon zum Ritter der Erzählung geschlagen haben, Schlüsse, wie der von „Goldbarrenmann“ oder der von „Frances stirbt“, meiner Lieblingserzählung neben „Maleala“. In „Frances stirbt“ besucht der Erzähler auf dem Lande, im „Haus Olivenbusch“ eben jene Frances, eine alternativ und religiös orientierte, ebenso zurückhaltende wie offene und strenge Frau und deren Psychiatrie erfahrenen Sohn Robert, der Frances ähnlich ist, nur weniger streng. Dies Leben, nachdem der Erzähler sich manchmal sehnt, weil es ihm ehrlich und einfach zu sein scheint und obwohl er weiß, dass Frances am Selbstmord seiner Mutter zumindest ideologisch nicht gänzlich unbeteiligt war, verlässt Frances nun – in einer nachgerade beunruhigend ruhigen Verfassung. Und der Erzähler verlässt die beiden und deren „Haus Olivengrund“, und der Leser kann sich vorstellen, dass es für immer ist. Diese meisterhaft in der Balance des Für und Wider gehaltene Geschichte endet wie folgt: „Ich setze mich auf die Rückbank und genieße das einschläfernde Ruckeln der Busfahrt. Ich denke: Komm her, Stadt, komm her, Verwirrung, komm her, Großraumdisco. Ich denke: Komm her, Herbst, komm her, Winterschlussverkauf, komm her, kleiner Alf aus Plastik im Weihnachtsmannkostüm. Durch die Straßen laufen um fünf Uhr morgens, dann kommt irgendwann Silvester, dann kommt irgendwann der Frühling. Wenn ich ankomme, werde ich wissen: Es ist auch nicht der richtige Ort.
Das ist derart auf den Punkt gebracht, dass auch ich nun endlich mal einen Punkt machen sollte, denn ich habe lange genug geredet und kann Sie nur noch bitten, meine Begeisterung zu prüfen, indem Sie die Bücher unserer diesjährigen Preisträger lesen.

Andreas Stichmann, ich gratuliere auch Ihnen von Herzen sehr zu Ihrer Hälfte des Clemens-Brentano-Förderpreises und bin sicher, sie hätten beide den ganzen verdient.
Einen schönen Abend Ihnen allen und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Katja Lange-Müller

Laudatio anlässlich der Verleihung des Clemens Brentano Förderpreises für Literatur der Stadt Heidelberg 2009 an Felicia Zeller und Andreas Stichmann am 1. Juli 2009