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Sybille Cramer

Laudatio auf Rapheal Urweider

Ich nehme an, Sie kennen das Bild, zumindest von Abbildungen her. Heute hängt es im Prado und trägt den Titel „Der Geschirrhändler“. Es zeigt auf einer quer durch das Bild gelegten Diagonale eine herrschaftliche Kutsche mit livrierten Dienern auf Bock und Trittbrett, die sich abwärtsrollend nach hinten entfernt. Und im spitzen Winkel dazu die Gegendiagonale, eine dicht ausgezogene Linie nach vorn weisender Gebärden, die bei der verschatteten Silhouette der rückwärts aus dem Bild fahrenden Dame in der Kutsche endet. Den Kontrapunkt dazu bildet im Vordergrund das strahlende Antlitz der jungen Geschirrhändlerin und der Scherinnenblick der alten Sibylle neben ihr, die hypnotisiert einem leuchtend aufgehenden Hoffnungssignal jenseits des Bildrands entgegenblicken.

Goya hat die Begegnung einander ablösender Epochen 1779 gemalt, als eine alte Zeit ging, das ancien régime, und das bürgerliche Zeitalter heraufdämmerte. An seine Darstellung einander ablösender Epochen erinnere ich in diesem Augenblick in der Absicht, Ihnen die Bedeutung der Gedichte Raphael Urweiders vor Augen zu führen.
Urweiders Gedichte beweisen die Formfähigkeit eines differntialischen Beobachtens, das aus einem Prozessieren von Differenz zu Differenz, von Unterscheidung zu Unterscheidung, von Falte zu Falte besteht. „Faltenwürfe“ ist der Zyklus von 9 x 3 reimlosen Ritornellen überschrieben, mit dem Urweider programmatisch seinen zweiten Gedichtband Das Gegenteil vom Fleisch einleitet. Ein Herbstgedicht, das ein erstes Signalwort an den beschwerten Schluss des ersten Ritornells setzt: „unewig“. Das Naturgedicht hört auf, seinen Stammplatz an der Seite magisch-mythischer Urwortdichtung einzunehmen. Den zeitflüchtigen Erinnerungen an Natur als verlorenes Paradies setzt Urweider die Bedeutsamkeit des transitorischen Augenblicks entgegen, kontingenter Zeit. Das Herbstbild setzt sich aus einer exakt bestimmbaren Summe von Beobachtungsmomenten zusammen, die in kontinuierlichem Austausch mit Erinnerungen, Vorstellungen und Affektationen stehen. Urweiders Protagonist ist unterwegs, der Equilibrist, zu dessen Balanceakt die zitternde Kompassnadel gehört. Jede Bewegung in eine Richtung ruft eine andere Bewegung in eine andere Richtung hervor, jedes sinnliche Element das komplementäre, jede Beobachtung und tastende Aussage eine Alternative. Eine grammatikalische Analyse ergibt einen in ein offenes Netzwerk zerlaufenden Satz, dessen Markenzeichen der Doppelpunkt ist und eine Vielzahl von Zusätzen, Ergänzungen, Fragen, Berichtigungen und Verzweigungen in Relativsätze. Das Gedicht stellt die Konstruktion von Sinn in einer offenen Bewegung zwischen lose verkoppelten sinnlichen und gedanklichen Elementen zur Schau.
Pünktlich zur Jahrhundertwende meldet sich eine Künstlergeneration zu Wort, die in einem womöglich letzten Akt der Säkularisierung christlich geprägte, der Kontrolle dienende Formen des Denkens kündigt und die Paradoxie in den Grundlagen des Denkens nicht länger ausklammert. Die Technik des Beobachtens verliert ihren quasi göttlichen Status als zeitferner Vorgang und schrumpft zur zeitpunktgebundenen, zur nicht mehr kontrollierbaren Operation. Damit kann Einheit kann nicht mehr anders als paradox beschrieben werden. Das schließt Formenbildung, den zeitabstrakten Text nicht aus. Das beweisen Urweiders Gedichte.

Das Problem des Zuschließens löst sein Herbstgedicht durch Rückkoppelung , rekursiv. Die Schwelle zwischen der Beobachtung erster und zweiter Ordnung, der Beobachtung des Beobachtens wird erst medial, im Formungsakt überschritten, wenn der Text sich verschleift. Das Ende verkehrt sich in den Anfang. Als rekursives Gebilde entfaltet er logisch die Infinitheit der Wahrnehmungsgrundlage von Kunst und inhaltlich ihre Übersetzung in mediale Abläufe. Eine Gödelisierung des Gedichts, die sich gegen den Anspruch der Poesie richtet, ihre sinnlichen und gedanklichen Elemente ohne Trug zum Sinnorganismus verschmelzen und womöglich gar als freier Wortgeist zwischen endlicher Wirklichkeit und der unendlichen Freiheit geistiger Existenz vermitteln zu können. Verabschiedet wird eine Sinnkunst, die ihr sinnliches Material verdrängt, um es zum geistigen Prinzip sublimieren zu können. Das illusionäre Grinsen der nicht existierenden Katze borgt sich Urweider, leicht abwandelnd, von Lewis Carroll. „im verlust enthalten war wohl: deine Kunst“, lauten im vorletzten Zyklus Euridices Abschiedsworte. Aber nun geht nicht sie, sondern Orpheus.

Das Herbstgedicht, sonst im Jahreszeitenzyklus so gern auf melancholische Tonlagen gestimmt, auf die Zeitklage und vollgestopft mit Vergänglichkeitssymbolen, Gräbern, welken Blätter und fallenden Früchten -, das Herbstgedicht verwandelt sich bei Urweider ins Artistische, Ironisch- Selbstironische und Witzige: in ein Spielwerk. Es entledigt sich der unbestreitbaren Autorität für die Repräsentation der Welt in der Welt und beerbt damit die Poesie des Romantikers Brentanos, dessen Name keine Staubwolke feierlicher Reden, geflügelter Worte und Schulsaufsätze aufwirbelt, weil der Bund mit ihm Reflexivität und Distanz voraussetzt. Die duftenden Frühlingskränze und schwebenden Weisen Brentanos, die Schlummerlieder, Romanzen, Legenden und Märchen sind Ahnung und Erinnerung an einen Zustand reinen Seins. Daneben rückt Urweiders zirkuläre Dichtung, die wie sie, gesellschaftliche Positionen in die Kulisse des Kunstwerks schiebt. Aber die Realität löst sich nicht mehr auf, sie kommt überhaupt erst zum Vorschein, roh, in ihrer ganzen Zeitlichkeit, Fraglichkeit Gebrechlichkeit.

Die reflektierte Sehnsucht der Romantiker nach dem Elementaren, Einfachen, Natürlichen wird heute als Reflex auf die Gelehrsamkeitsliteratur des 18. Jahrhunderts und als melancholische Geste einer jungen Generation verstanden, die auf die Erkenntniskrise der Zeit, auf Kants Vernunftkritik reagierte. Das Vertrauen in die menschliche Fähigkeit war erschüttert, zwischen Sein und Schein unterscheiden zu können. Es ist eben die Unterscheidung, die Urweiders Gedichte mit allen Konsequenzen ausleuchten.
Eine Generation junger Künstler und Intellektueller ist in eine Zukunft unterwegs, die jede erlösende Dialektik und die Hoffnung auf einen alles in sich aufnehmenden Abschlussgedanken, auf das System verabschiedet. Zurückbleiben Ruinen des Denkens. Aber die Alternative lautet heute nicht mehr zwischen einer müßig in ihre Kissen gelehnten Aristokratie und dem Handel treibenden Bürgertum statt.

Stattdessen ziehen zwei Generationen aneinander vorüber, die Begriffe wie Geschichte, Moderne, Fortschritt, Technik, Aufklärung, Subjektivität, Kultur handhaben, als kämen sie von verschiedenen Sternen. Die ältere Generation hat ihr Jahrhundert, das Jahrhundert der Weltkriege , des Faschismus und Stalinismus mit Hilfe von Theorien zu verstehen gesucht, den Theorien Adorno/Horkheimers und Walter Benjamins, die an die abendländischen Verfallsdiskurse anknüpfen. Die Stichworte lauteten Dialektik der Aufklärung, Ende der Geschichte, Ende des Subjekts, Beschleunigung von Zeichenproduktionen, Technisierung der Kommunikation, Zerstreuung der Kultur, namenlos werdende Sprache, Erosion des natürlichen Gedächtnisses.

Eben noch lernten wir Hans Magnus Enzensbergers einschlägige Grabreden auswendig, Mausoleum, Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts. Jetzt studieren dieselben inzwischen gebeugten und grauhaarigen Dialektiker die Gedichte von Performanz- Artisten die dem Fortschritt ein Ständchen bringen und sich als Stifterfiguren des eigenen Spielwerks die großen Gestalten des Zeitalters der Entdeckungen und Erfindungen an die Seite holen, die Pioniere des technischen Fortschritts, der Welteroberung und technischen Reproduzierbarkeit. Den Leonardo da Vinci und Kopernikus, Edison, Gebrüder Wright, Maghellan, den Curies, Scott, Dunlop, Montgolfiers, Morse und Pasteur wird nicht mehr der Preis des Fortschritts vorgerechnet, sondern hoch angerechnet wird ihnen, dass sie das Experimentieren mit Intelligenz beispielhaft vorführten. Urweider betrachtet sie mit umgedrehten Fernrohr: große Kinder mit ihren Spielzeugen in Bastelschuppen, Versuchslabors, Hinterzimmern und Garagen, und bei blinkenden Lampen, klingelnden Leitungen, sich drehenden Schellackplatten, rollenden Rädern, steigenden Drachen und fliegenden Körben wird die Welt immer kleiner, der Himmel immer niedlicher, der Horizont rundlicher und die Laune rosiger. Es ist das Kindesalter der eigenen Zeit: „boys machen wir weiter“ lautet der Schlussvers Urweiders.

Odysseus hört auf, als Ruinenbaumeister des Abendlands zur Rechenschaft gezogen zu werden. Bei Raphael Urweider studiert er mit der Nase in der Pflanzenfibel die Biologie des Frühlings und es ist immer noch Herbst. Die angezeigten Himmelsrichtungen, vielbefahrenen Geleise und Fahrtziele im Hauptbahnhof Zürich und seine Bewegung erschliesst den Ort als Überblendung realer und imaginärer Räume. Am Ende macht er kehrt. Troja kommt sowieso nicht in Frage.

Laudatio von Sybille Cramer anlässlich der Verleihung des Clemens Brentano Förderpreises für Literatur der Stadt Heidelberg 2004 an Raphael Urweider am 30. Juni 2004.