Günter Coufal

„Am Fenster“

Textauszug

Was sind wir denn, wenn nicht heimliche Selbstmörder, und als gestandene Überzeugungstäter bedürfen wir da keinerlei Gründe. So gehört zum Bild eine Art Leere um uns herum, die durch nichts aufzufüllen ist. Wenn andere nicht begreifen, dann, weil sie die Tatsachen leugnen. Sie verwechseln die Wahrhaftigkeit des Sterbens mit der Geduld, die der Tod sich mit uns nimmt, und sie missbrauchen seine bewundernswerte Langmut, indem sie sich verlogene, langweilige, vor allem aber nicht endende Geschichten erzählen – wie zum Beweis, dass ihnen mehr als eine Gnadenfrist vergönnt sei. Dabei übersehen sie geflissentlich, wie sehr sie sich damit selbst schaden: Wir sterben nämlich an dem, was hinter uns liegt. Mit unseren Geschichten schaufeln wir uns buchstäblich unser Grab. Das eine ist die List des anderen, und ich bin sicher, dass darüber niemand besser Bescheid weiß als meine Schwiegertochter, deren Beharrlichkeit, mich mit Erinnerungen zu füttern hier ihre Ursache haben muss. Ich nehme ihr das auch nicht übel, wir alle folgen unseren Neigungen, sie hat sich in den Kopf gesetzt, mich zu Tode zu mästen, und ihre Zielstrebigkeit erfüllt mich mit einer gewissen Zärtlichkeit. Ich habe Liebe (soweit ich mich dessen erinnern kann) immer als Belästigung empfunden, als einen ziemlich hirnverbrannten Versuch, im Unhaltbaren einen Halt zu finden. Da kommt mir meine Schwiegertochter mit ihren verderblichen Absichten schon eher entgegen. Zumal sie recht taktvoll vorgeht.... Mit jener Behutsamkeit, derer wir bedürfen, um unser rätselhaftes Geschick zu ertragen. Und dass sie nicht nachgibt, ehrt sie geradezu. Ich selber denke nicht daran, von meinem Weg abzuweichen. Falls es sich überhaupt um einen Weg handelt.... Denn wenn mich etwas an meinem Dasein reizt, dann, dass es weder Anfang noch Ende hat. Dafür sorgen unter anderem auch die meinen, allesamt, so wie sie sind, wenn auch nicht immer mit den zweckdienlichsten Mitteln: mein seinen Frauen hingegebener, singender Vater, die unverdrossen Todesanzeigen verschickende Mutter, der in Mullbinden erstickende Sohn, dieser Schrumpfkopf, seine Frau (ich bin ihr kürzlich, oder war es heute, in einer Bergschlucht begegnet), der nach Lavendel duftende Dr. Regenberg mit seinem Köfferchen voller Betäubungstabletten (ich will ab heute die Dosis energisch verringern), meine mich rührend umsorgende Frau (ich höre in der Küche Geschirrgeklapper, sie wird bald die Treppe heraufkommen). Der Regen draußen hat unterdessen nachgelassen, ab und zu fegt ein Windstoß noch einen Regenschauer gegen die Scheiben. Zwei Maler in mit Farbe bekleckerten Arbeitsanzügen verstauen leere Plastikeimer in einem Kleintransporter; die Arbeiten drüben scheinen sich ihrem Ende zu nähern. In der unteren Straßenbiegung tauchen zwei Schulkinder auf, in gelben Regenjacken mit Kapuzen, sie laufen Schulter an Schulter, wie zusammengewachsen, und schwenken gegenüber dem hohen, kahlen, von der Nässe schiefergraubraun eingefärbten Wohnblock in eine Seitenstraße ein.

Textauszug aus der Erzählung "Am Fenster" des mit dem Clemens Brentano Förderpreis für Literatur 1993 ausgezeichneten Autors Günter Coufal (Insel-Verlag 1993)