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Andree Weber

Einleitende Worte

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
liebe Ann Cotten,

wissen Sie, was eine Loxodrome ist? Oder eine Isanabase? Was "psittakisch" bedeutet? Oder "choliambisch"?

Nein? Nun, machen Sie sich keine Sorgen: Sie brauchen sich deshalb nicht ungebildet vorzukommen. Auch wenn Sie ihren Goethe und ihren Heine gelesen haben, werden Sie vermutlich nie über diese Wörter gestolpert sein. Aber dass diese Ausdrücke bei unseren Klassikern nicht vorkommen, bedeutet noch nicht, dass man sie nicht wunderbar in Gedichten verwenden kann. Und dass man dadurch ganz erstaunliche und erfrischend unverbraucht klingende Verse erhalten kann, das hat Ann Cotten in ihrem Debütband Fremdwörterbuchsonette gezeigt.

Es hat wohl noch nie jemand vor ihr "Loxodrome" auf "Symptome", "Aporie" auf "Alibi" oder "deviant" auf "insignifikant" gereimt. Doch wir lernen in ihren Gedichten nicht nur sperrige Fachbegriffe kennen, wir treffen auch gute alte und zweifelhafte neue Bekannte wieder. In den Fremdwörterbuchsonetten begegnen uns der "Kratzfuß" und das "Pläsir" genauso wie die "Dreadlocktussi". Vom Aussterben bedrohte Ausdrücke stehen neben modernem Slang. Und wo sich kein deutsches Wort mehr findet, um auszudrücken, was gesagt werden soll, und es auch kein Fremdwort gibt, das bereit wäre, auszuhelfen, da erfindet Ann Cotten einfach einen neuen Ausdruck. Auf diese Weise entstehen dann zum Beispiel "Synapsenleichen" oder "Dentriten-chöre".

Aber es sind natürlich nicht in erster Linie die Wörter, die ihren Stil ausmachen: Es ist der Ton, den diese Wörter erzeugen. Altbekanntes, vom Liebeskummer bis zur Landschaftsbeschreibung, erhält einen neuen Klang durch die vordergründig nüchterne Beschreibung in unpoetischen Worten und Wendungen und - und das ist die wahre Überraschung - dieses Altbekannte gewinnt dadurch, zeigt sich auf einmal in einem neuen Gewand. Nicht nur gelingt es Ann Cotten, nicht in gängige Sentimentalitätsmuster zu verfallen; nicht nur schafft sie es, frische, originelle Metaphern zu finden; nein, darüberhinaus sind ihre Gedichte durchdrungen von einer manchmal überdeutlichen, manchmal wundersam subtilen Ironie, einer Ironie, die dennoch nicht in Gefühlskälte oder gar Gefühllosigkeit abgleitet, sondern im Gegenteil dadurch, dass sie die Sentimentalität entlarvt, das wahrhaftig Traurige und Deprimierende aber nicht verbirgt, mehr Gefühl zu Tage fördert als all die Besinnungslyrik, all die detaillierten, in unrhythmische Verse gefassten Bestandsaufnahmen der eigenen Lebenswelt, die wir bei anderen modernen deutschen Dichtern antreffen. Ann Cotten gelingt es, den Leser gleichzeitig zu unterhalten und zu berühren, und (fast) nie gleitet sie dabei ab in Kalauereien; und nie gleitet sie ab in Sentimentalitäten.

Der amerikanische Schriftsteller Norman Mailer hat einmal über Sentimentalität gesagt:

Sentimentalität ist die emotionale Promiskuität derer, die kein Gefühl haben.

Sentimental sind wir, wenn wir uns von dem berühren lassen, was wir gerade vor der eigenen Nase haben, nur weil es sich gerade vor unserer eigenen Nase befindet. Sentimental sind wir, wenn wir uns vom schon tausendmal Erlebtem schwelgerisch ergreifen lassen, während das Neue, Unbekannte uns bloß verstört. Sentimental sind wir, wenn wir in die emotionalen Muster verfallen, die gesellschaftliche Konventionen uns nahe legen, und uns so der Mühe entheben, eigene emotionale Muster auszubilden.

Promiskuitiv wird diese Sentimentalität durch ihre Unbeständigkeit: Zur gleichen Sache, zum gleichen Menschen verhalten wir uns mal so, mal so; je nachdem, wie nah diese Sache, dieser Mensch uns gerade ist. Wir gehen unseren eigenen Meinungen, unseren eigenen Gefühlen fremd, wenn wir uns vom Eindruck des Moments steuern lassen. Das soll nicht heißen, dass wir uns solchen Momenteindrücken nicht auch mal überlassen können. Wir dürfen ihnen nur nicht unsere Urteilsfähigkeit opfern, denn dann ist es, als hätten wir gar keine eigenen Meinungen, keine eigenen Gefühle.

Oder, wie Ann Cotten es einmal in einem Text über das Dichten beschrieben hat:

Das Problem am Sentiment ist, dass es keine Skrupel hat, die verbrauchtesten Ausdrücke aufzugreifen, ähnlich wie der Kitsch typischerweise auf die etabliertesten Bilder und Wendungen rekurriert, aus denen eine Genreempfindung gebaut wird. [...] Das Sentiment richtet sich danach, was man fühlen soll, und versucht, Klischees zu entsprechen, um sich des schon entwickelten Vokabulars bedienen zu können.

Viele schöne Gedichte, meine Damen und Herren, sind in diesem Sinne sentimental. Sie umgarnen uns, sie nehmen uns gefangen, sie beschwören Eindrücke und Emotionen, an denen wir uns erfreuen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Wir dürfen nur nicht vergessen, dass wir uns auf ausgetretenen Pfaden bewegen, wenn wir uns von ihnen leiten lassen, und nur nachempfinden, was andere fühlten. Auf diese Weise wird der Leser zum Reaktionär degradiert.

Ann Cottens Gedichte wollen gewagt sein, wollen gewitzt sein, wollen verspielt und versponnen, rätselhaft und rotzfrech sein, doch eines wollen sie nie sein: sentimental.
In einem der Gedichte heißt es:

Alles ist deutlich konkreter als du jemals empfinden kannst.

Anders ausgedrückt: Wir übersehen etwas, wenn wir nur unsere Empfindungen konsultieren. Dieses "`Konkretere"' freizulegen, es nicht etwa von der Sentimentalität verschleiern zu lassen, darauf zielt ihre Lyrik ab. Im gleichen Gedicht heißt es:

Inhalt zu schätzen heißt nicht, ihn beschwatzen,
noch dich beschwatzen lassen und das niederschreiben:
Alles, was Sehnsucht dir diktiert, ist Quatsch.

Sehnsucht, die kleine Schwester der Sentimentalität, streut uns auch nur Sand in die Augen, wenn wir nach jenem schwer fassbaren "Konkreteren" suchen

Wer nun Gedichte schreiben will, die nicht sehnsuchtsvoll, nicht sentimental sind, droht immer entweder Belehrungslyrik oder Belanglosigkeiten zu produzieren. Der Grat zwischen Gefühlspoesie und Gefühllosigkeit ist ein schmaler. Ann Cotten bewegt sich auf ihm mit seiltänzerischer Sicherheit. Denn auch ihre Gedichte berühren und beeindrucken, doch sie tun dies auf eine andere, irritierendere und verstörendere, aber auch bereicherndere und letztlich literarischere Art und Weise.

Zunächst einmal schafft der oft sachliche Ton, der unter anderem auch durch das häufig unpoetische Vokabular, durch Wörter wie "Loxodrome", zustande kommt, eine Objektivität, die die Kälte der modernen Welt viel angemessener widerzuspiegeln in der Lage ist, als etwa wortgewaltiges Schildern eigenen Leidens, eigenen Weltschmerzes es könnte.
Es werden uns (in manchen Gedichten) kleine Tragödien geschildert, die sich erst auf den zweiten Blick als Tragödien zu erkennen geben, und die doppelte Erkenntnis, dass hier ja eigentlich etwas sehr Trauriges geschildert wird, und dass man dieses Traurige fast völlig übersehen hätte, erschreckt mitunter viel mehr, als es die ergreifendste Schilderung der Tragödie je vermocht hätte.

Sodann schafft der oft flapsige, unernste Duktus eine zusätzliche Distanz zum Inhalt. Die Ironie will auch amüsieren und unterhalten, natürlich - aber sie dient doch auch einem ernsten Ziel:
Die Komplexität der Welt lässt sich in einer noch so genauen Beschreibung nicht einfangen - und daher muss jede gute Beschreibung der Wirklichkeit zugleich sich selbst in Frage stellen, darf sich selbst nicht ernst nehmen, muss - in einem Wort - ironisch sein.

Solche ironischen, aber im Kern tiefmelancholischen Verse klingen dann etwa so:

... und du, du bist wie dieses Klopapier, das
in großen Rollen dunkel im Behälter kauert,
dass man es lange in die falsche Richtung dreht,
und dreht mans richtig, gibts nur was zum Abreißen.

Es gibt außerdem in Ann Cottens Lyrik viel Rätselhaftes, dass sich dem Interpretieren, dem Verstehen zu entziehen scheint: Ihre Verse legen Fährten, die vordergründig nirgendwo hinführen; Halbsätze tauchen auf, die vermeintlich in keinem Zusammen-hang zum Übrigen stehen; Anspielungen widerstehen auf den ersten und oft auch auf den zweiten Blick der Deutung.
Und doch gelingt es dem geduldigen Leser bisweilen, nach und nach dies und das zu enträtseln, hie und da eine Andeutung, einen Verweis in Bezug zu setzen, einen scheinbar schiefen Vergleich nachzuvollziehen.

Man kann sich in Ann Cottens Gedichte versenken, kann eine halbe Stunde in eines von ihnen eintauchen, es wieder und wieder lesen und ihm nach-denken, und auch nach einer halben Stunde wird man immer noch im ein oder anderen Vers auf etwas Neues stoßen, einen Aspekt, der einem entgangen war, den Sinn einer Formulierung, die bisher wie ein Findling in der Ebene dastand.

Und dies, meine Damen und Herren, macht den - zugegebenermaßen nicht immer leicht zugänglichen - Zauber der Poesie Ann Cottens aus.

Viel habe ich Ihnen jetzt über Ann Cottens Lyrik erzählt; und habe Ihnen dabei noch nicht einmal die Frage beantwortet, die Ihnen, da bin ich sicher, schon seit gut zehn Minuten unter den Nägeln brennt. Hier die Antwort:

Eine Loxodrome ist eine Kurve auf einer Kugeloberfläche, die immer unter dem gleichen Winkel die Meridiane schneidet.

Vielen Dank.


Andree Weber - studentischer Juror

Einleitende Worte anlässlich der Verleihung des Clemens Brentano Förderpreises für Literatur der Stadt Heidelberg 2008 an Ann Cotten am 1. Juli 2008