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Sven Hillenkamp

Die Erfindung des modernen Unglücks

Über die endlose Suche des Clemens Brentano, die Verbindung von Dichten und Denken und die gewerbliche Sucht nach dem Sachbuch

„Ich habe mich immer nach Vorbildern gesehnt“, sagte Billy. „Doch ich habe nur Nachbilder gefunden. Immer wenn ich etwas getan hatte, erfuhr ich von Menschen, die schon Ähnliches getan hatten – und das fast immer besser als ich. Sie wurden zu meinen Nachbildern. Heute habe ich viele große Nachbilder.“

Wie diesem Billy mit seinen Nachbildern, so erging es mir mit dem Dichter und Menschen Brentano. Er, der ein Vorbild für mich, für mein Buch hätte sein können, in gleich mehrfacher Hinsicht – er tauchte tatsächlich auf als ein Nachbild. Ich begegnete ihm nur, weil ich zuvor das Buch geschrieben hatte; weil er Namenspatron des Preises ist, den ich heute hier entgegen nehmen darf.

Vorbild wofür? Für die freien Menschen zum einen, die Hel-den des Buches. Denn diese Menschen leiden an einem romantischen Unglück. Brentano hat es nicht nur, wie Goethe, vielfach beschrieben, er hat es auch in vollem Maß erlitten und verkörpert. Die Sehnsucht nach der Unendlichkeit und die endlose, niemals sich erfüllende Suche. Die Vorstellung vom authentischen „Selbstsein“, von einem intensiven, von allen Gewohnheiten und aller Alltäglichkeit befreiten Leben, von Augenblick zu Augenblick und Rausch zu Rausch – und dessen Unmöglichkeit in der schnöden Bürgerwirklichkeit. Der Traum vom pausenlos schöpferischen Künstlerleben, jenseits von Brotstudium und Brotarbeit, von der, wie wir heute sagen würden, kreativen Selbstverwirklichung – und die Hölle der Künstlerdepression, der Schöpfungsunfähig-keit, der Scham angesichts von Ideenlosigkeit, des eigenen Nichtkönnens. Die Suche nach der absoluten, nie endenden Liebe zu einem Menschen, der alles Verlorene symbolisiert und ersetzt, der ebenso blitzender Geist ist wie bewusstlose Sinnlichkeit, ebenso Künstlerseele wie felsenfester Lebens-partner, mit dem zusammen erst sich die eigene Bildung zur Menschenbildung vollendet, mit dem erst, in verständigem Gespräch und in wechselseitiger Inspiration, jene roman-tisch-schöpferische, unendliche Innenwelt entstehen kann, die den Sehnsüchtigen aus der verhassten Realität errettet – ein Mensch, der, natürlich, leider (oder glücklicherweise?) nie gefunden wird, auch wenn man immer wieder, für Tage, Wochen, Monate glaubt, dass es so sei.

Was wir Heutigen unter Glück verstehen und als Unglück erfahren – wir haben es von den Romantikern, nicht zuletzt: von Brentano.

Der Baudelaire-Satz: „Wer Romantik sagt, sagt moderne Kunst“, läßt sich also abwandeln: „Wer Romantik sagt, sagt modernes Leid.“

In seinem ersten Buch, dem Roman „Godwi“, heißt es vom Helden, dass er „ewig in sich selbst zurückkehrte, und indem er an sich selbst allein (sich) immer von neuem und neuem bestimmen musste, ward er der unbestimmteste, undeutlichste Mensch“.

Der unbestimmteste, undeutlichste Mensch – das ist wie eine Formel für die Heutigen. Jene Menschen, die darüber, dass sie Menschen ohne Eigenschaften sind und bleiben, dass es ihnen nicht gelingt, Gestalt anzunehmen, keines-wegs glücklich sind, sondern zutiefst verzweifelt; die bei der Unendlichkeit der Möglichkeiten tief verschuldet sind, ihr immerzu Entscheidung und Entwicklung schulden; deren Sein ein einziges Könnte-Sein ist, reines Möglichsein ohne Wirklichsein.

Brentano hasste es, sich um Geldangelegenheiten zu kümmern. Jeder Kontakt mit profanen Dingen schien ihn auf-zulösen wie Säure; außer Liebesrausch und Kunstrausch war ihm alles unerträglich, ließ ihn seine „Wertlosigkeit“ und seine Verlassenheit spüren.

Eine philosophische Dissertation über Brentanos „Versuch eines kindlichen Lebens“ hebt an: „Wenn sich Clemens Brentano den Menschen zeigt, ist das Urteil über ihn rasch gefällt: ein Mensch mit herrlichen Anlagen, zu wenig geformt, ein Mensch mit quälerischen Leidenschaften, zu wenig gezügelt, ein Mensch voll boshaften Übermutes und weinender Klage über sich selbst, reizbar, herrisch, launisch, weich und hart, rührselig und grausam, begeistert für alles Schöne, angeekelt von der Welt – ein Mensch voller Widersprüche, ein Mensch, der höher greift und tiefer fällt als mancher, aber ein Mensch ohne Willen.

'Ich wusste lange nicht, was ich fühlte, und daher nicht, was ich wollte, und ich fühlte und wollte doch soviel!' Alles wollte Brentano, alles, was schön und gut und wahr ist, und nichts erreichte er. Seine Sehnsüchte liefen ins Unendliche, seine Wünsche verlangten zuviel in einem zu engen Raum, er wusste nie, was Arbeit heißt, er konnte sich nie dazu brin-gen, nach einer Idee sich zu fangen und geordnet in eine bestimmte Richtung vorzudringen.

Seine Gedanken zersprudelten, seine Arbeiten zerflatterten, seine Liebe zu allen Frauen seines Lebens war ohne Maß. Übermütige Freude und schreiende Verzweifelung wechselten miteinander ab; am Ende seines Lebens zog er sich vor der eigenen Verantwortung zurück, verzichtete auf Fantasie, Verstand und Glück und gab sein Leben, ohne es selber mehr zu leiten, in die Hand Gottes.“

Soweit die Schilderung des Doktoranden Walter Dellers. Einmal bezeichnet er die Romantiker sogar – in Abgrenzung zu den Bürgern, die sich im Kreis ihrer Gewohnheiten drehen – als „die freien Menschen“.

Sogar den letzten Schritt, den Abbruch der endlosen Suche und Sprung aus der Freiheit in die Bindung an ein Wesen, das mir „gut tut“, hat Brentano also vorexerziert; auch wenn dies Wesen bei den freien Menschen im „Ende der Liebe“ nicht Gott ist, sondern nur eine Schrumpfform, der „gute Partner“.

Und wie die freien Menschen in der Vernunftpartnerschaft, so findet Brentano auch in seinem Gottglauben keine Ruhe, kein Glück. Es bleibt ihm nicht viel mehr, als den „Veitstanz des freiheitstrunkenen Subjekts“ zu verfluchen, mit dem er versucht hat, abzuschließen.

Gewiss, heute geht es nicht mehr um den Veitstanz einiger weniger verschworener Subjekte (in Jena oder Heidelberg). Wir leben in der seltsam-paradoxen Zeit einer strukturellen Romantik, da die Unendlichkeit kein Privileg dichterischer Fantasie mehr ist, sondern Eigenschaft der Welt; da die Gesellschaft dem Menschen als unbegrenzte begegnet, ihm keine eindeutige Grenze mehr zieht, jeder immerzu glauben muss, dass er, wenn er sich nur anstrenge, hart an sich arbeite, noch einen Schritt weiter gelangen könne in Richtung auf Kreativität und Intensität, Kunst, Liebe, Selbstsein und das große Glück. Die Tatsache, dass das keine Illusion ist, sondern Tatsache, macht das Leben schön wie schwer, läßt Hoffnung und Sehnsucht alles überflügeln, was der Mensch erreichen kann.

Verehrte Damen und Herren, ich bin nach Heidelberg gekommen, um für einen Preis für Literatur zu danken. Das erfüllt mich mit besonderer Freude, denn das Buch, für das ich diesen Preis erhalte, hat, wie Sie wissen, seinen Weg in die Welt, über Verlagsprospekte und Buchhandlungsregale, als Sachbuch angetreten. Im Internet, bei amazon, wurde es zunächst als Erotikartikel gehandelt, in rabattierter Kom-bination mit dem Orion 558664 Icebreaker Perlen-Vibrator aus Jelly-Gleitmaterial. Gesamtlänge 25, Durchmesser 4 Zentimeter.

Diese Kombination ist passender, als es auf den ersten Blick scheint. Gilt doch auch für den Orion 558664, was Musil die „Verbindung von exakt und nicht-exakt, Genauigkeit und Leidenschaft“ genannt hat. Musil sprach von seinem Essayismus – einem Denken nicht als Wissenschaft oder Systemphilosophie, sondern im Rahmen und nach der Logik der Literatur, der einzelmenschlichen, existenziellen Erfahrung.

Solches Denken kann sich auf die – von Montaigne aus-gehende – „essayistische“ Tradition berufen. Es hat aber noch eine zweite Wurzel: den romantischen Roman. Damit sind wir wieder bei Brentano. Denn der romantische Roman soll, nach Friedrich Schlegel, einem Freund und Mentor Brentanos, den Ertrag der je persönlichen Erfahrung des Autors darstellen, „die Quintessenz seiner Eigentümlichkeit“. Damit soll er zugleich, wie einst der Epos, „ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt“ sein, „ein Bild des Zeitalters“. Auf der Formebene ist es seine Bestimmung, „alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie“ zu verschmelzen. Andere literarische Formen, so Schlegel, seien bereits fertig und erstarrt. Doch: „Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, dass sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. (...) Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist...“

Hier hätten wir also zugleich eine Bestimmung des Essays: Denken und Schreiben aus Erfahrung – mit Anspruch auf Welterkenntnis; Verbindung von Poesie und Philosophie, Denken und Literatur; Offenheit der Form. Entweder man nähert sich diesem Sowohl-als-auch vom Denken her, wie Montaigne bis Améry, oder man kommt von der Literatur, wie Schlegel, Musil.

Auch Brentano hat, mit seinem „Godwi“, einen solchen romantischen Roman geschrieben. Im Untertitel nannte er das Werk, um das Unendliche, das Formsprengende und Fragmentarische anzuzeigen, einen „verwilderten Roman“. Es ist vor allem die Briefform, die schriftliche Figuren“rede“, die es ermöglicht, die Poesie mit Philosophie zu verbinden. Und wie bei Musil ist Brentanos Philosophie damals Anti-Philosophie, gegen Fichtes deduktiven Idealismus gerichtet, der sich vom Allgemeinen zum Besonderen bewegt. Dagegen setzt Brentano ein Denken, das die Dinge – wie Adorno es später wiederum für den Essay sagen wird – „von innen aufschließen“ soll. An seine Schwester schreibt er, dass das „Denken die Heimat der Seele“ sei, ein „Sichdaheimfühlen im innersten Dasein“.

Derart hätte Brentano also auch formal, auch poetisch und denkerisch ein Vorbild für „Das Ende der Liebe“ sein kön-nen (wie Schlegel es mit seinem „Lucinde“-Roman tatsäch-lich war). Vorbild nicht im Sinn des bloß Nachzuahmenden, sondern der wichtigen Inspiration, des geistig-literarischen Eisbrechers.

Wo aber liegt der Sinn einer Verbindung von Poesie und Philosophie? Was bedeutet es, die Dinge von innen aufzuschließen? Wo fällt die Darstellung persönlicher Erfahrung in eins mit dem Bild des Zeitalters? Sind Subjektivität und Objektivität nicht gegensätzliche Positionen, die ein Drittes nicht zulassen?

Keineswegs. Oder nur dann, wenn man das Objektive als das Tatsächliche, das Subjektive als das Nur-Ausgedachte, Imaginäre verstünde. Doch ist es nicht umgekehrt? Die Erfahrung des Menschen ist ihm sein Tatsächliches. Dagegen sind ihm philosophische Systeme, die aus dem Allgemeinen hergeleitet sind, und ebenso wissenschaftliche Messdaten ein Äußerliches, das er zwar zu seinem, zu einem Inneren machen kann, sich also wiederum über Erfahrung aneignen, das aber keinesfalls schon an sich die Welt des Menschen beschriebe. Vielmehr sind sie zunächst nur Text, losgelöster Datenstrom, abgekoppelt von menschlicher Erfahrung und Leidenschaft, vom tatsächlichen Boden der Tatsachen. Hegels System wie jede beliebige wissenschaftliche Studie sind aus dieser Sicht Produkte eines Zustands, den die Psychologie Dissoziation nennt. Sie gleichen dem bekannten „Redefluss nach dem Unfall“, sind reine Geistestätigkeit, abgespalten von Erfahrung und Gefühl. Natürlich ist das legitim und auch von Nutzen. Wie der Traumatisierte augenblicklich nur in Abspaltung von seiner Erfahrung überleben kann, so können Systemdenken und Wissenschaften bis zu einem gewissen Grad nur in der Abstraktion von einzelmenschlicher Erfahrung betrieben werden. Philosophie und Literatur aber besitzen ihr Objektives gerade in dem, was die anderen als bloß Subjektives verschmähen und verkennen.

Wovon man nicht – logisch, wissenschaftlich – sprechen kann, davon soll man schweigen? Also gerade nicht. Dem Wittgenstein-Satz ist entgegenzuhalten, dass Literatur und Philosophie eben dort ihren Bezirk haben, wo man nicht mehr sprechen, weder herleiten noch messen kann, wo es weder um Schlüsse noch um äußere Sachverhalte geht, sondern – um Erfahrung. Wovon man nicht sprechen kann, davon soll man also nicht schweigen – sondern schreiben. Musils Wort von der Verbindung von exakt und nicht-exakt ist insofern nicht glücklich. Denn „exakt“ kann nur Wissenschaft sein. Sie muss, was sie beschreibt, in einen Zahlenraum projezieren, ihre Methode ist das Messen. Denken und Literatur dagegen können und sollen niemals exakt sein (das Wort macht in ihrem Bereich gar keinen Sinn), nur gewissenhaft, wahrhaftig, streng. Darum, so Heidegger, müsse Denken „gerade um streng zu bleiben, notwendig unexakt sein.“

Vom Essayisten Montaigne über die Romantiker Schlegel und Brentano bis zu den später sogenannten Existenzial-philosophen Kierkegaard, Heidegger und Jaspers sowie zu Schriftstellern wie Robert Musil haben sie das alle gewusst, am klarsten und ursprünglichsten vermutlich Kierkegaard: dass der Mensch seine ihm eigene Wahrheit hat, die sich nicht ablösen läßt von seiner Existenz, seiner situativen Handlungslogik, seinem Dasein auf das Mögliche hin und den Tod.

Besonders wenn es um ein Phänomen wie Unendlichkeit geht, um die unbegrenzten Möglichkeiten, wird das deutlich. Aus der Vogelperspektive der Systeme und Messstationen gibt es keine Unendlichkeit. Der Soziologe erklärt: „Alles ist begrenzt. Die Chancen sind sehr ungleich verteilt. Nicht alle können alles erreichen, sondern nur sehr wenige sehr viel. Es wird sogar alles knapper, ungerechter. Meine Statistik beweist es.“

Doch das ist, wie wenn ein Wissenschaftler zum Fußball ginge und wütend riefe: „Wieso rennt Ihr denn alle dem Ball hinterher? Alle können nicht gewinnen, sondern nur eine Mannschaft!“ Der Einzelne weiß aber nicht, ob er zu den Gewinnern gehören wird. Er weiß nicht, ob er in der ersten Runde ausscheiden oder Fußballweltmeister werden wird. Er ist im Spiel, im Leben drin und erkennt erst am Schluss – am Tag seines Todes – wo sein individuelles Möglichsein sich beschließt.

Die Unendlichkeit – sowohl die romantische wie die heutige, gesellschaftliche – ist eine Tatsache der Erfahrung, die sich nur Literatur und Philosophie erschießt, die eine Verbindung beider nahelegt.

Diese – also nur vermeintliche – Verbindung von „Genauigkeit“ und „Leidenschaft“ hat allerdings immer schon, wenn sie nicht als batteriebetriebenes Lustwerkzeug, sondern als Buch auftrat, für Verwirrung und Empörung gesorgt. Lange galt für Schreiben und Denken in Deutschland der Satz vom ausgeschlossenen Dritten: Entweder es handelt sich um Wissenschaft oder um Literatur. Tertium non datur. Adorno stellte sinngemäß fest: Wer in Deutschland als Schriftsteller gelobt werde, sei als Denker ruiniert. Ein Beispiel: Günther Anders. Umgekehrt gilt der Satz auch. Ein Denkender kann nicht Dichter sein. Nietzsche gilt landläufig fast nur als Philosoph, nicht als Schriftsteller (während er seinerzeit auch wegen seines poetischen Schreibens nicht als Philosoph anerkannt wurde).

Diese, gewissermaßen akademische, Verwirrung wird heute gesteigert dadurch, dass im Gewerbe mittlerweile der Satz vom erbetenen bis erzwungenen Dritten gilt: Es soll bitte weder dröge Wissenschaft noch pure Literatur sein, son-dern ein richtiger Sachbuchknaller – ein Lesespaß für Nicht-leser, amüsant und provokativ. Ein Buch als Sprungbrett in die Zeitung, ins Fernsehen. Als Skandal, Enthüllung, Debatten-Entzünder. Ein Buch, dessen Zeithorizont das Geschäftsjahr ist, nicht die Ewigkeit dessen, das auf Zeit gar nicht zielt. Dessen Telos Verkaufszahlen und Medien-Erregung sind, keinesfalls sein dürres, fragwürdiges Vor-handensein – als Buch.

Was ist ein Sachbuch? Eine kommerzielle Kategorie. Nach Lateinisch commercium – der Handel. Das Sachbuch ist ein Kind des Buchhandels. Kein Philosoph setzt sich hin und sagt: „Ich schreib jetzt mal ein Sachbuch.“ Kein Essayist, kein Schriftsteller sagt: „Ich schreib jetzt mal ein Sachbuch.“ Es sei denn, es ginge ihnen um Popularität, Verbreitung, Geld. Das Ziel eines Sachbuchs ist kein künstlerisches und kein denkerisches, sondern das der Laienverständlichkeit, der Medienresonanz, des Verkaufserfolgs. Umso bedenklicher, dass sowohl Büchersendungen in Radio und Fernsehen als auch Verlage, Kritiker und Zeitungsredaktionen die Kommerzkategorie verwenden, als sei sie wissenschafts-, philosophie-, literaturimmanent. Das ist, als kämen Gedicht und Roman nur noch als Spielarten der Kategorie Unterhaltung in Frage. Zwischen Gottfried Benn und Gameboy – nur Nuancen, ein Schwierigkeitsgrad, eine Ziel-gruppenkluft.

Diesem „Sachbuch“ geht es um alles, nur um die Sache nicht. Es soll „erzählend“ sein, im privaten Ton (handele es auch von theoretischer Physik oder von Moralphilosophie), geschrieben aus der ganz persönlichen Perspektive des Verfassers, dem das Ich-Sagen bis an den Rand des Be-fehlens erlaubt wird. Denker oder Dichter? Der Dualismus entpuppt sich im Rückblick als Luxusdilemma. Aus der bipolaren Störung der hochkulturellen Denk- und Schreib-welt ist im Sog des Marktes eine Sucht nach dem Dritten geworden.
Die Situation desjenigen, der Denken und Poesie verbindet, hat sich also gewandelt. Er oder sie mag immer noch in der Adorno'schen Zwickmühle stecken, weder als das Eine noch als das Andere Ernst genommen werden. Man mag ihm das Fehlen von Fußnoten und Anmerkungsapparat an-lasten, Soziologen werden sagen, es fehle die „empirische Basis“, Psychologen, es gebe „wenig Verwendbares für die therapeutische Praxis“.

In jedem Fall aber wird das Dritte, das der Autor unter-nimmt, als das Dritte missverstanden werden, das mittler-weile allgegenwärtig ist. Man wird ihn für einen „Sachbuch-autor“ halten. Man wird glauben, er erzähle Geschichten, gebrauche poetische Formen, um unterhaltsam, zugänglich, in den Medien und am Markt erfolgreich zu sein. Man wird glauben, er schreibe keinen wissenschaftlichen Jargon, da er sich an kommerziellen, nicht da er sich an literarischen oder philosophischen Kriterien orientiere. Man wird glauben, dass er mit sogenanntem „Wissen“ operiere, das er selbst-verständlich aus anderen Büchern habe, welche er nun – amüsant und leicht verständlich – zusammenfasse. Man wird ihn informieren, er komme mit seinem Buch leider zu spät. Denn eben sei ein Buch erschienen, das alles Vor-handene zum Thema zusammenfasse: amüsant und leicht verständlich. Der „Sachbuchautor“ ist einer, der geschaffen scheint, die strukturalistische These vom Tod des Autors zu beweisen; einer, von dem man selbstverständlich annimmt, er schaffe nichts Neues, zitiere und montiere nur, kopiere und collagiere bereits Existentes. Nach dem Motto: Wenn Originalwerk und Originalgenie ohnehin Unmöglichkeiten sind, dann kann man gleich Sachbücher schreiben (oder Romane und Kunstwerke produzieren, die sich offen aufs Zitieren und Collagieren schon zurückgezogen haben). Schließlich: Man wird glauben, das letzte Kapitel liefere die Lösung, den Ausweg, das große Plädoyer des Verfassers. Während dies weder im „Schloss“ noch in der „Glasglocke“ geschieht, weder in „Sein und Zeit“ noch in „Der flexible Mensch“, geschieht das Wunder mit großer Regelmäßigkeit im Sachbuch, wird der Sachbuchautor mit Notwendigkeit zum Ratgeber und Weltenretter. Er spricht, im Jesuston: „Ich will kommen und Euch gesund machen.“ In der Bibel werden Wunder Zeichen genannt – jetzt zeigt sich: es sind Zeichen in Arial oder Times New Roman. Also wird die Ver-nunftehe vom Unglück zum „Lösungsansatz“. Ja, es heißt sogar, der Autor predige sie.

Enzensberger hat geschrieben: „Zum Experten wird es der Essayist niemals bringen.“ Leider muss ich feststellen: Zum Experten wird es der Essayist, der Autor, der ein Drittes jenseits von Wissenschaft und reiner Literatur unternimmt, garantiert bringen.

Was also habe ich zu sagen? Was bleibt, wenn ich spreche – anstelle der Stimme des Buches? Was bleibt, wenn ich versuche, den sogenannten Inhalt abzuschöpfen, wenn das unendliche Wegenetz einer Erfahrung zusammenschnurrt zur Einbahnstraße einer „These“? Was bleibt übrig, wenn aus einer Sprache der Ergriffenheit eine sachliche Sprache zu werden hat?

Im „Mann ohne Eigenschaften“ heißt es: „Nichts ist übrigens bezeichnender als die unfreiwillige Erfahrung, die man mit gelehrten und vernünftigen Versuchen macht, (...) die Lebenslehre, so wie sie ist, in ein Lebenswissen um-zuwandeln und der Bewegung der Bewegten einen 'Inhalt' abzugewinnen; es bleibt von allem ungefähr so viel übrig wie von dem zarten Farbenleib einer Meduse, nachdem man sie aus dem Wasser gehoben und in Sand gelegt hat. Die Lehre der Ergriffenen zerfällt in der Vernunft der Unergriffenen zu Staub...“

Ich musste diese Erfahrung erst machen. Wovon ich nicht sprechen konnte, davon habe ich doch gesprochen – um Leser zu gewinnen, Bücher zu verkaufen, weiterschreiben zu können.

Ein letztes Mal kommt mir hier mein großes Nachbild Brentano zu Hilfe. Wie der Autor unmittelbar in seinem Schreiben erkannt sein will, nicht in einem Medialen, einer Vermittlung, die zum Verstellenden wird, so wollte der Romantiker Brentano von den Frauen unmittelbar erkannt werden, nicht im Medium sachlicher Selbsterklärung, im Kennenlern-Interview mit dem potentiellen Partner. So rief Brentano: „Kennen lernen das ist mir lächerlich, ich bin nicht kennen zu lernen!“

So möchte ich rufen: „Mein Buch ist nicht kennen zu lernen. Man soll es lesen.“

Umso größer meine Freude und Dankbarkeit, wenn manche dem Sachbuchmissverständnis nicht erliegen, manche den Charakter des Buches erkennen. Nie ist ja, wenn man schreibt, gewiss, dass sich Verständige finden. Ja, philo-sophisch gedacht, literarisch geschrieben hat nur, wer bereit gewesen ist, die Taue der – dieser Tage heiligen – Kommunikation zu kappen. Darum ist es ein Wagnis. Verständnis ist eine Sache, die sich im Lesenden ereignen muss; wird es vom Autor vorgefertigt als Verständlichkeit, wird aus dem Buch eine Broschüre. Der Lesende muss sich entscheiden, verstehen zu wollen – Hegel oder Heidegger, Franz Kafka oder Herta Müller –; nicht der Autor soll nach Worten suchen, die je schon die des Lesers sind, die auf den generalisierten Anderen zielen, den kleinsten gemeinsamen Nenner. Ob sich Kommunikation ereignen wird? Man weiß es nicht. Ich hatte das Glück. Hegel soll auf dem Totenbett gesagt haben: „Keiner hat mich verstanden – außer einem, der mich missverstanden hat.“ Dies Los bleibt mir erspart. Vielen Dank!

Sven Hillenkamp

Rede anlässlich der Preisverleihung des Clemens-Brentano-Förderpreises für Literatur der Stadt Heidelberg an Sven Hillenkamp am 20. Juli 2010