Literaturresidenz in Tartu 2025
In Heidelberg aufgewachsene Schriftstellerin Julia von Lucadou in Estland zu Gast
Erfahrungs- und Erlebnisbericht von Julia von Lucadou
Mein 6-wöchiger Aufenthalt in Tartu im Rahmen der Literaturresidenz Tartu war prall gefüllt mit kulturellem Austausch und Schreibinspiration.
Ein zentrales Thema, das sich während meines Aufenthalts herauskristallisierte und mich besonders nachhaltig beeinflusst hat, ist die zentrale Rolle der Natur in estnischem Kulturschaffen in der Fortsetzung von und Auseinandersetzung mit Folklore- und Animismus-Traditionen. In meinen Gesprächen mit estnischen Schriftsteller*innen und bei meiner Tour des Eesti Kirjandusmuuseumi (estnisches Literaturmuseum) durch Krista Ojasaar wurde deutlich, dass Volkssagen und Folklore als Wiege der estnischen Literatur gelten und auch in zeitgenössischen Werken noch viel mit solchen Motiven gearbeitet wird. Sie begegneten mir immer wieder - ob in den estnischen Texten, die mir die Besitzerin der Buchhandlung „Biblioteek“ im Aparaaditehas empfahl oder auch direkt in der Natur, auf dem Vaike Väerada in Elva, einem Kunstwanderweg, der durch Volkskunde inspirierte Holz-Skulpturen in den Wald integriert.
Die Gespräche über estnische Natur-Narrativ-Traditionen halfen mir in der Auseinandersetzung mit einer Frage, die für mich angesichts der weltweiten Klimakatastrophe immer drängender wird, nämlich wie Literatur die Beziehung des Menschen zu seinem natürlichen Lebensraum spiegeln, verstärken oder verändern kann. Beim Literaturfestival Head Read in Tallinn hatte ich die Möglichkeit, eine Veranstaltung des Philosophen Emanuele Coccia zu besuchen, der die Dringlichkeit dieser Verbindung philosophisch untermauerte.
Die estnische Folkloristin Merili Metsvahi nahm sich Zeit, mir zentrale estnische Folklore-Motive, die sich häufig auf Landschaftsmarker beziehen, in Ausflügen in die Natur Südestlands auch physisch nahezubringen. Ein zentrales Element war dabei die Bedeutung der Gewässer, die Estlands Landschaft prägen, sei es in Form von Meer, Mooren oder Flüssen. Was für ein Glück, dass ich im Deutschen Kulturinstitut Tartu so nah am „Mutterfluss“ Estlands, dem Emajõgi, untergebracht war, wo ich mit Blick über die Bäume der Kastanistraße an meinen Texten und Notizen arbeitete und von wo aus ich viele Exkursionen auf und entlang des Flusses unternahm.
Neben der Arbeit an meinen dritten Roman, in dem Natur eine wichtige Rolle spielt, entstanden so auch literarische Skizzen, von estnischen animistischen Traditionen inspiriert, in der die Natur sich die Erde von den Menschen zurückerobert.
Für den kulturellen Austausch vor Ort sorgten besonders Linda Jahilo, Triin Ploom-Nitra und Marja Unt aus dem Team des Prima Vista Festivals, die mich mit Künstler*innen und Expert*innen für estnische Literatur und internationalen Autor*innen vor Ort vernetzten. Sowie Hella Liira, Germanistikdozentin an der Universität Tartu, und die estnische Schauspielerin Maarja Jakobson, die sich beide viel Zeit nahmen, mir die Kulturlandschaft in Tartu zu zeigen - von Film über Theater bis zu Konzerten und Poetry Slams. So konnte ich auch zwei großen estnischen Traditionen in einem beiwohnen, der Liebe zum öffentlichen Singen und dem Freilufttheater. Den Wetterbedingungen trotzend, erlebte ich mit einem enthusiastischen Publikum auf der ausverkauften Freilichtempore im Zentral-Park eine beeindruckende musikalische Collage des Uus Theaters über die politische Situation in Estland im Jahr 1985.
Der Austausch über meine Romane „Die Hochhausspringerin“ und „Tick Tack“ mit Studierenden der Germanistik an den Universitäten von Tallinn und Tartu in Kooperation mit dem DAAD war spannend und inspirierend, der Besuch des Literaturfestival Prima Vista und die gemeinsame Lesung mit dem deutsch-venezuelanischen Schriftsteller Ernesto Salazar-Jimenéz aus Bremen und der estnischen Schriftstellerin Kai Aareleid ein großes unterhaltsam-humorvolles Highlight.
Ich bedanke mich von Herzen bei Phillip Koban und dem Kulturamt Heidelberg, Markus Köcher, Konrad Doberauer und dem Goethe-Institut Tallinn, Linda Jahilo, Triin Ploom-Nitra, Marja Unt und dem ganzen Team des Literaturfestivals Prima Vista, sowie Vaike Hint und dem Deutschen Kulturinstitut Tartu für die Organisation, Förderung und die exzellente Betreuung vor Ort.
Weitere Informationen
- Presseinformation des Goethe-Instituts Estland
- Auftritt der Literaturresidenz auf der Webseite des Goethe-Instituts Estland
- Webseite des deutschen Kulturinstituts Tartu
Open Call für Literaturresidenz in Tartu, Estland
25.04. bis 06.06.2025; Bewerbungsschluss: 16.02.2025
Das Goethe-Institut Tallinn, das Deutsche Kulturinstitut Tartu und das Literaturfestival Prima Vista bieten vom 25. April bis zum 6. Juni 2025 einen Artist-in-Residence-Platz in der UNESCO-Literaturstadt Tartu für Autor*innen und Illustrator*innen der UNESCO-Literaturstädte Heidelberg und Bremen. Das Programm umfasst eine Aufwands- und Reisekostenentschädigung sowie eine kostenlose Unterkunft vor Ort.
Mit dem Residenzprogramm wollen wir literarische Recherchen und den kulturellen Austausch zwischen den UNESCO-Literaturstädten Heidelberg, Bremen und Tartu anregen. Die Residenzperson hat Gelegenheit, im Rahmen des Literaturfestivals Prima Vista in Tartu die lokale Literaturszene kennenzulernen und sich mit internationalen Autor*innen zu vernetzen. Zudem besteht die Möglichkeit, das ebenfalls im Residenzzeitraum stattfindende Literaturfestival Head Read in Tallinn zu besuchen.
Der Residenzperson wird Zeit und Raum zur Verfügung gestellt, um ein eigenes Projekt (weiter) zu entwickeln. Entsprechend der eigenen Vorstellungen können auch Recherchen durchgeführt oder Texte erstellt werden. Während des Aufenthalts ist die Residenzperson außerdem eingeladen, an mindestens einer öffentlichen Veranstaltung teilzunehmen bzw. diese selbst zu organisieren (z.B. Gespräch, Arbeitspräsentation, Workshop o.ä.).
Die im Jahr 2024 neu eingerichtete Residenzunterkunft des Deutschen Kulturinstituts Tartu befindet sich in einer historischen Jugendstilvilla im Zentrum der Stadt. Die UNESCO-Literaturstadt Tartu ist mit rund 100.000 Einwohner*innen die zweitgrößte Stadt Estlands und war 2024 Europäische Kulturhauptstadt gemeinsam mit weiteren südestnischen Gemeinden.
Das Jahr 2025 ist in Estland aus literarischer Hinsicht ein ganz besonderes: Vor 500 Jahren erschien das erste Buch in estnischer Sprache. Aus diesem Anlass wird im gesamten Land das „Jahr des estnischen Buches“ gefeiert.
Wen wir fördern
Bewerben können sich deutschsprachige Autor*innen und Illustrator*innen mit mindestens einem veröffentlichten Buch. Der Lebens- und/oder Arbeitsmittelpunkt der Bewerber*innen sollte in einer der beiden UNESCO-Literaturstädte Heidelberg oder Bremen liegen. Leider können Bewerbungen von estnischen Staatsbürger*innen nicht angenommen werden.
Was wir fördern
Das Stipendium umfasst:
- die kostenlose Nutzung einer Einzimmerwohnung im Deutschen Kulturinstitut Tartu,
- eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 1.200 Euro, zur Verfügung gestellt vom Goethe-Institut Tallinn,
- und einmalig die Reisekostenerstattung durch die entsendende UNESCO-Literaturstadt Bremen bzw. Heidelberg (An- und Abreise für die Strecke Deutschland-Tartu-Deutschland, Slow-Travel mit Zug und Bus möglich).
Versicherungen (Auslandskrankenversicherung, Unfall- und Haftpflicht usw.) tragen die Stipendiat*innen selbst.
Vergabekriterien
Über die Vergabe entscheidet eine Jury der beteiligten Programmpartner (Goethe-Institut Tallinn, Deutsches Kulturinstitut Tartu, Literaturfestival Prima Vista, UNESCO Literaturstädte Heidelberg, Bremen und Tartu) auf der Basis der Qualität und Relevanz des für den Aufenthalt in Tartu eingereichten Residenzprojektes. Es wird erwartet, dass im Anschreiben Bezug auf Tartu und Estland genommen wird. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Erforderliche Unterlagen
- Formloses Motivationsschreiben unter Berücksichtigung des Residenzorts und mit Beschreibung des eigenen Arbeitsvorhabens während des Aufenthalts (auf Deutsch, max. 1 Seite)
- Lebenslauf mit Kontaktdaten und Liste früherer Veröffentlichungen
Falls gewünscht und sinnvoll können zusätzlich eingereicht werden:
- Referenzschreiben (optional)
- Schreibprobe (optional)
Informationen zum Bewerbungsprozess
Bitte senden Sie Ihre Bewerbung einschl. Unterlagen per E-Mail bis zum 16. Februar 2025 an: markus.koecher@goethe.de
Die ausgewählte Person wird bis zum 28. Februar 2025 benachrichtigt.
Alle Informationen auch auf der Webseite des Goethe-Instituts Tallinn/Estland.
Partner
Goethe-Institut Tallinn
Deutsches Kulturinstitut Tartu
Literaturfestival Prima Vista
UNESCO-Literaturstadt Heidelberg
UNESCO-Literaturstadt Bremen
UNESCO-Literaturstadt Tartu
Zum Download:
- Die Ausschreibung als PDF-Datei (374 KB)