Georg Klein

Ein Glücksschmerz

Laudatio auf Sven Hillenkamp und sein Buch „Das Ende der Liebe“

Werte Anwesende,
liebe Literaturliebende,

gleich eingangs muss ich gestehen, es hat den hilfreichen Zufall, es hat den kleinen Schubs des Schicksals, gebraucht, dass ich das Buch DAS ENDE DER LIEBE überhaupt zur Hand genommen habe. Ich hätte es mir wohl nicht besorgt, wenn ich bloß im Verlagsprospekt auf seine Ankündigung gestoßen wäre. Auch auf die Rezensionenen hin, die mir später, als ich das Buch glücklich gelesen hatte, vor Augen kamen, hätte ich es mir wahrscheinlich eher nicht neben das Bett gelegt. Daran wäre nicht die Fülle der erscheinenden Bücher, das Übermaß der Lektüre-Möglichleiten schuld gewesen, sondern ein spezifischer Abwehrreflex, eine heftige allergische Reaktion.
Jeder Buchtitel, der sich das Wort Liebe zu eigen macht, ist mir seit langem Greuel. Egal ob es sich um einen Roman oder um ein sogenanntes Sachbuch, im ärgsten Fall sogar um einen sogenannten Ratgeber handelt, ich empfinde eine Art Schutzekel, der mich auf emotionale und intellektuelle Distanz gehen lässt, sobald der Zweisilber „Liebe“ schon vor dem ersten vollständigen Satz, wie eine Harpune mit Widerhaken gegen mich in Stellung gebracht wurde. Unwillkürlich unterstelle ich dem jeweiligen Verfasser unlautere Absichten, verhohlen zweckhafte Unehrlichkeit. Wer Liebesratgeber verfasst, ist gewiss kein Gran glücklicher, auch nicht lebensklüger als seine Klienten, sondern bloß einen eiskalten Millimeter schlauer und abgezockter. Wer die Liebe lockend in den Titel hebt, scheint mir im folgenden Text mit hoher Wahrscheinlichkeit zu fast jedem Trickbetrug bereit. Wahrscheinlich schreibt da ein veritabler Kulturschurke, und zielt nicht auf Augenhöhe, auch nicht auf Herzenshöhe, sondern aus der Hüfte auf eine Misere unserer Gegenwart – aus der Hüfte in die Hüfte, weil in Hüfthöhe neben anderem auch der Geldbeutel seiner sehnsüchtig unglücklichen Zeitgenossen sitzt.

Die Zeitgenossin, die mich nach kurzem elektronischen hin und her, per E-Mail, dann doch dazu brachte, mit der Lektüre des Buches zu beginnen, denkt wohl insgeheim ähnlich über die handelsübliche Produktion an Liebesbüchern, zumindest schrieb sie mir, Sven Hillenkamps Buch sei eben „genau nicht“ das Machwerk, dass man nach einem misstrauischen Blick auf seinen Titel fast zwangsläufig erwarte. Es sei im Gegenteil ein richtiges Buch, es sei „gewissermaßen“, es sei„sogar“ Literatur. Verdorben vom Anlesen schlechter Bücher glaubte ich ihr nicht, ich wollte meine Abwehr bestätigt sehen, und musste bereits nach der Lektüre der ersten Seite erstaunt und beschämt erkennen, dass mein Vorurteil Unrecht hatte.
Der Erfahrungsraum, das Erfahrungsgehäuse, das ich betrat, war unverkennbar in seiner Eigenart. Um ihn mit anderen eigentümlichen Sphären unserer Erfahrung zu vergleichen: Das Buch, das ich folgenden loben möchte, ist etwas anderes als ein Traum - etwas anderes als ein nächtlicher Albtraum, obwohl man ungeschützt tief erschrecken kann, wenn man sich seinen Sätzen mit offenem Auge und wachem Ohr aussetzt. Es ist etwas anderes, als das serielle Gespinst unserer spontanen Phantasien, obwohl es ähnlich unmittelbar wie der Tagtraum von unserem Begehren und von unseren Gelüsten erzählt. DAS ENDE DER LIEBE von Sven Hillenkamp ist auch keine lange Reportage, kein Großformat des Journalismus, obwohl es sich den Umständen unserer Welt, den Widrigkeiten unserer Gegenwart beobachtend zuwendet, wie eine gute Reportage beherzt zur Sache kommt und bis zum Ende allgemeinverständlich bleibt. Es ist auch kein Werk einer speziellen Wissenschaft, obwohl es Begriffe setzt und diese in nachvollziehbarer und kritisierbarer Logik verknüpft. Als Werk der Literatur eröffnet es auch einen anderen Erfahrungsraum als der Film, obwohl es immer wieder das Bild mit bewegten menschlichen Figuren sucht und szenisch vom Leben dieser Menschen erzählt.

Der Titel trügt nicht, in der Tat ist es ein Buch über die Liebe in unserer Zeit, obwohl ich mich scheue zu sagen, die Liebe wäre sein
Thema. Wer schließlich auf seine Lektüre zurückblickt, hat viel erfahren, allerdings erfahren nicht bloß im Sinne von in Erfahrung gebracht, sondern auch im Sinne von erlebt, es ist ihm durch die sprachliche Eindringlichkeit, die Sprachwucht des Textes auf heftige Weise auch widerfahren, fast zugestoßen. Und so kann der in sein Leseerlebnis, in den literarischen Erfahrungsraum Zurückblickende nicht sagen – zumindest nicht guten Gewissens - behaupten, dass er der souveräne Herr seiner Lektüre gewesen sei, dass er dem Buch seinen Inhalt, seinen thematischen Gehalt extrahiert habe, und nun als eine Art Rückstandswissen verkürzt, konzentriert und konserviert in einem geistigen Wissensspeicher bei sich trage.
Die Überwältigungs- und Ohnmachtserfahrung, die jedes literarische Lesen wesentlich braucht, ermöglicht „Das Ende der Liebe“ in einem Maße, dass man es vielleicht besser nicht ein Buch „über“ die Liebe, sondern eher ein Buch „von“ der Liebe nennen sollte, ein Buch mitten „aus“ dem Liebesverhängnis unserer Zeit. Fast beiläufig, ohne dass ein mentalitätsgeschichtlicher Exkurs nötig gewesen wäre, begreift man, wie der psychische und soziale Komplex, der vor gut zweihundert Jahren als „romantische Liebe“ zu seiner unverwechselbaren Gestalt fand und seitdem kontinuierlich an Geltung für das moderne Individuum gewonnen hat. In der zweiten Hälfte des zurückliegenden Jahrhunderts kam es dann zu einer rasanten Verschärfung der gesellschaftlichen Bedingungen. Lange, bis hinein die Anfänge der Beschleunigungsphase um 1960, hatte die Liebe von den Zwängen gezehrt, die ihr entgegenstanden. Kulturelle Verbote und gesellschaftliche Schranken verhinderten, dass die Liebenden, die sich jeweils erwählt hatten, umstandslos zueinander kamen. Die romantische Liebe stand unter dem Zeichen ihrer Behinderung und Verhinderung, ihrer potentiellen Unmöglichkeit, ja eventuell sogar ihrer sicheren Unerreichbarkeit. Gerade dies schärfte ihren einzigartigen Ereignis-Charakter. Das Ideal der Freiheit, dem sich auch auf den anderen Feldern des Lebens so viel in den Weg stellte, schien dabei der natürliche Verbündete der Liebe.

Die gegenwärtigen Liebessuchenden gehorchen einem neuen Gesetz. Sie stehen in einer Welt, die eine unendliche Menge von Liebesmöglichkeiten verspricht. Die Zahl der potentiellen Sex- oder Beziehungspartner scheint unbegrenzt. Die Wahl des einen ist zur Auswahl aus unüberschaubar Vielen geworden. Der Totalität der Möglichkeiten entsprechen die Totalität der Suche und die Totalität der eigenen Verfügbarbeit. Denn auch derjenige, der unter Unzähligen nach einem Partner fandet, bedeutet in der „Liebesmasse“ den anderen eine weitere Gelegenheit unter verführerisch vielen Gelegenheiten. Die Freiheit ist damit nach dem Abbau der meisten Hindernisse in den modernen Konsumgesellschaften zum entscheidenden Feind der Liebe geworden. Das Phänomen „Liebe“ erreichte seinen „historischen Zenit“, aber der Quantitätszuwachs an Liebesmöglichkeiten, die kollektiv zwingend dominante Vorstellung unendlicher Freiheit in allen Liebesdingen führt schließlich zu einem paradoxen qualitativen Umschlag. Die besten Bedingungen, die Liebe je hatte, werden ihr zum Verhängnis. Die alte Liebe verschwindet im Zeitalter ihres historischen Triumphs.

Diese Zeit, unsere Zeit, in der Liebe zum Gespenst einer neuartigen Nichtliebe geworden ist, beschreibt dieses Buch. Es beschreibt unsere Gegenwart als unentrinnbar geschlossene Welt. Es gehört zu den vielen begrifflichen Kunstgriffen, das es den Begriff „Gesellschaft“ meist meidet und den scheinbar allgemeineren, in Wirklichkeit intimeren, denn ebenso heimeligen wie klaustrophobischen Begriff „Welt“ vorzieht.
„Welt“ so heißt es einmal in bündiger Beiläufigkeit, sei „Grund und Spielraum der Seele“ und der Beschreibungs-, Erzähl- und Denkgang des Buches besucht die Jagdgründe und Spielfelder der gegenwärtigen armen Seelen und ihrer Körper, von den es einmal hieß, sie seien „wie Gott sie schuf“. Wir sehen die Orte der Sex- und der Partnersuche, auf denen die die neue Nichtliebe exzessiv praktiziert wird: Die Großraumdiscothek, das Straßencafé, die Wartebereiche der Flughäfen, die Parks, die Büros, die Strände und Boulevards der Ferieninseln und immer wieder die virtuellen Plätze des Internets. Es sind die Produktionsstätten der neuen Nichtliebe. Die professionelle Partnervermittlung im Netz, der Zugriff auf viele tausend ebenfalls Suchende inszeniert und arrangiert die Totalität der Möglichkeiten in nie zuvor dagewesener Weise. Das Internet ermöglicht die Steigerung der bisherigen Unterhaltungs-, Vergnügungs- und Sexindustrie zu einer „Industrie der Erotik im umfassenden Sinn“, zu einer „Industrie der Liebe und der Partnersuche“.
Dieses Weltgelände wird durchaus „von außen“ beschreiben, aber nicht aus der Satellitenperspektive desjenigen, den Distanz schaffende Perspektiven und ausgekühlte Begriffe der schmerzhaften Teilhabe entheben würden. Eher ist ein Niedrig- und Langsamflug, wie ihn in der modernen Militärtechnik die neusten Drohnen ermöglichen, ein Auf- und Abpendeln, das den Verwerfungen des beobachteten Geländes folgt. Von Satz zu Satz generiert sich immer aufs Neue ein intimer Feinabstand der Erklärung und Aufklärung, der sich nie zur Illussion intellektueller Überlegenheit und analytischer Abgeklärtheit aufspreizt. Durch die Nähe der Anschauung wird jeder billige Spott, jede wohlfeile Häme und die Erleichterung der Verachtung vermieden. Die Lächerlichkeit der modernen Liebessucher ist nicht zum Lachen. Zugleich sorgt diese mit großer Ernsthaftigkeit durchgehaltene Minimaldistanz dafür, dass es nie zum rühr- und klageseligen Verschmelzen von Beschreibung und Beschriebenem kommt.

Wer sind die Akteure in diesem universalen Raubkrieg um die kostbare Ressource „Liebe“, die sich spätestens im Moment der Er-beutung immer als moderne Nichtliebe erweist? Die Protagonisten des Buches heißen „der freie Mensch“, oder „die freien Menschen“. Selbst die Unterscheidung in „Mann“ oder „Frau“ wird in den Sätzen vermieden, in denen diese Agenten der unbegrenzten Liebeshändel als Subjekt oder Objekt auftreten. Diese Strategie der Benennung bedeutet nur vordergründig eine Typisierung oder Anonymisierung. Im Gang der Darstellung ergibt sich schnell, schon auf der ersten mit offenem Gemüt gelesenen Seiten ein entgegengesetzter Effekt. Die Vermeidung sozialer Differenzierung nach Schicht, nach Bildung, Beruf, Einkommen, nach sexueller Orientierung oder Alter schließt sofort die Schlupflöcher, die der mitgerissene, der bald empathisch strapazierte Leser unwillkürlich sucht. Es gibt kein Reservat, keinen Ruhepunkt, auf den sich der Gehetzte im Jagdspiel der modernen Liebe flüchten könnte. Ein „Für diesen Irrsinn bin ich zu alt!“ gilt genau so wenig wie ein „Hiervor schützt mich mein besseres Wissen! Vor dergleichen bewahrt mich zum Glück meine reflektierte Erfahrung!“. Selbst Ehe und Familie bedeuten, wie ernsthaft sie auch betrieben werden mögen, keine Enklave des Enthobenseins: Denn: Auch wer kein Single ist, wird wie ein Single behandelt.“
Die Phantasie, die sich in der alten romantischen Liebe, ein glücklich eingehegtes Leben mit dem vom Schicksal Zugeteilten aus-malte, wird unter dem Rundumdruck der Weltliebesverhältnisse zur unheimlich pornographischen Reproduktionsmaschine der zahlrei-chen bisherigen Partner und zur ebenso obszön seriellen Imaginationsautomaten der das Auge bedrängenden Gelegenheiten. Seelenlage und Weltlage stehen unter dem Diktat der gleichen Universalität, dem gleichen Möglichkeitsdruck. Das Individuum, das einmal durch seine Beschränkungen bestimmt war, gerät in einen neuartigen Entgrenzungswahn. Die unablässige Suche, der permanente Zwang zur Wahl verflüssigen das Bild, das sich einer von sich selbst, von seinem denkbaren Partner wie von der Welt und ihren Orten machen kann, zu einem quecksilbrigen Spiegel.

Nicht nur Freiheit und Phantasie auch andere respektable Begriffsgefährten der romantischen Liebe erfahren eine radikale Neubewertung. Die Sehnsucht, die einst dem zweifellos Einzigen galt, wird zum universellen Sehnsuchtswahn. Ausgerechnet die Hoffnung erweist sich, ruhelos schweifend, für den freien Menschen nun immer wieder als zuverlässig grausame Garantin von Selbstentwertung und erbärmlich beschämendem Ungenügen: „Ihre Hoffnung nimmt ihnen ihre Würde“, lautet einer der vielen beiläufig gewichtigen Sätze dieses Buches.
Die gegenwärtige Welt nimmt uns in den Liebesverhältnissen, in den Verhängnisverhältnissen der Nichtliebe also unsere Würde. Das Buch tut dies nicht. Zweifellos sind WIR die Figuren des beschriebenen Spiels. Aber der Gang seiner Beschreibung vermeidet, das falsch mitleidige „Du“, genau so wie ein trügerisch solidarisches „Wir alle“. Es ist kein Buch der schlauen Fraternisierung, das seinen Leser, irgendwann auf ein „Das kennst Du auch, mein Lieber! Das kennst Du genauso gut wie ich!“ herunterduzt. Ebenso entschieden wahrt sein Erzähler die Distanz zum zeitlich und körperlich realexistierenden Autor. Beide sagen nicht „ich“, obwohl von der ersten Seite an klar ist, dass die sprechende Stimme sich keineswegs von der als umfassend beschriebenen Erleidenslage ausnimmt. Stattdessen dürfen die Protagonisten bisweilen „ich“ sagen, in Wendungen wie: „Der freie Mensch sagt: Ich ...“
Das dann Folgende ist künstlich, es sind keine von irgendeinem Aufzeichnungsapparat transkribierten Zitate, auch wenn die Aussage zwischen den Anführungszeichen einer Rede steht. Die Bekenntnisse der freien Menschen sind derart abgemagert artifiziell, dass es die scheinbar wortwörtlich Bekennenden in den durchgängig festen, entschieden formstarken Stil der gesamten Beschreibung, Erzählung und Erklärung bettet und in den Respekt der Zeitgenossenschaft birgt.

„Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter der unendlichen Freiheit!"ist zweifellos ein strapaziöses Buch. Ich habe es zurückliegende Woche zum dritten Mal gelesen, und es hat mich erneut mitgenommen, mehr mitgenommen als ich aus der gnädig unscharf gewordenen Erinnerung an die beiden ersten Lektüren im vergangenen Herbst erwartet hätte.
Dennoch ist es kein trostloses Buch. Wer in seinen Erfahrungsraum eintritt, begreift allerdings, wie sehr er als aufgebläht liebender und zugleich hysterisch nicht liebender Zeit- und Weltgenosse eines Trostes bedürftig wäre. Bereits in diesem Begreifen liegt ein erstes Erfahrungsglück, ein Glücksschmerz und zugleich ein wohltuendes Schrumpfgefühl. Es ist, als bildeten sich Blasen, Ausstülpungen, elephantöse Schwellungen unseres hypertrophen modernen Selbstbildes im Gehäuse der Leserfahrung, zumindest in dieser Heilhütte aus Worten, ein wenig zurück, während just jenes Selbst von seiner Not in einer entgrenzten Welt erzählt bekommt. Diese Linderung ist auf die bekannt literarische Weise paradox: Gerade wenn das Schlimme überdeutlich verhandelt und in inneren Bildern nachvollzogen wird, ergibt sich eine temporäre Selbstheilung durch die tief inhalierte Sprache, durch den erlittenen und genossenen Stil, durch die rätselhaft schöne Wirkkraft gelingender Literatur.
Erneut dankbar, erneut erschreckt und getröstet, gratuliere ich Sven Hillenkamp zum diesjährigen Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg.

Georg Klein

Laudatio anlässlich der Verleihung des Clemens-Brentano-Förderpeises für Literatur der Stadt Heidelberg an Sven Hillenkamp am 20. Juli 2010